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Das Perfekte Haus
Blake Pierce


In DAS PERFEKTE HAUS (Band #3) kehrt die Kriminalprofilerin Jessie Hunt, 29, frisch von der FBI-Akademie zurück und wird von ihrem mörderischen Vater gejagt und ist dadurch in einem gefährlichen Katz- und Mausspiel gefangen. In der Zwischenzeit muss sie ihr Bestes geben, um einen Mörder in einem neuen Fall aufzuhalten, der sie tief in die Vorstadt und an den Rand ihrer eigenen Psyche treibt. Der Schlüssel zu ihrem Überleben, so erkennt sie, liegt darin, ihre Vergangenheit zu entschlüsseln – eine Vergangenheit, der sie sich nie wieder stellen wollte.

Ein schnelllebiger und spannender Psychothriller mit unvergesslichen Charakteren und mitreißender Spannung. DAS PERFEKTE HAUS ist das Buch #3 einer fesselnden neuen Serie, die Sie bis spät in die Nacht blättern lässt.

Buch #4 in der Jessie Hunt Serie wird in Kürze erhältlich sein.





Blake Pierce

Das Perfekte Haus




Blake Pierce

Blake Pierce ist der Autor der meistverkauften RILEY PAGE Krimi-Serie, die 13 BГјcher umfasst (und weitere in Arbeit). Blake Pierce ist ebenfalls der Autor der MACKENZIE WHITE Krimi-Serie, die neun BГјcher umfasst (und weitere in Arbeit); der AVERY BLACK Mystery-Serie, bestehend aus sechs BГјchern; der KERI LOCKE Mystery-Serie, bestehend aus fГјnf BГјchern; der Serie DAS MAKING OF RILEY PAIGE, bestehend aus drei BГјchern (und weitere in Arbeit); der KATE WISE Mystery-Serie, bestehend aus zwei BГјchern (und weitere in Arbeit); der spannenden CHLOE FINE Psycho-Thriller-Serie, bestehend aus drei BГјchern (und weitere in Arbeit); und der spannenden JESSE HUNT Psycho-Thriller-Serie, bestehend aus drei BГјchern (und weitere in Arbeit).



Als begeisterter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres liebt Blake es, von seinen Lesern zu hören. Bitte besuchen Sie www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.



Copyright © 2018 by Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jacket image Copyright nikita tv, verwendet unter der Lizenz von Shutterstock.com.


BГњCHER VON BLAKE PIERCE

JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE EHEFRAU (Buch Nr. 1)

DER PERFEKTE BLOCK (Buch Nr. 2)

DAS PERFEKTE HAUS (Buch Nr. 3)



CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Buch Nr. 1)

DES NACHBARS LГњGE (Buch Nr. 2)

SACKGASSE (Buch Nr. 3)



KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WГњSSTE (Buch Nr. 1)

WENN SIE SГ„HE (Buch Nr. 2)

WENN SIE RENNEN WГњRDE (Buch Nr. 3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WГњRDE (Buch Nr. 4)



DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Buch 1)

WARTET (Buch 2)

LOCKT (Buch 3)



RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Buch 1)

GEFESSELT (Buch 2)

ERSEHNT (Buch 3)

GEKГ–DERT (Buch 4)

GEJAGT (Buch 5)

VERZEHRT (Buch 6)

VERLASSEN (Buch 7)

ERKALTET (Buch 8)

VERFOLGT (Buch 9)

VERLOREN (Buch 10)

BEGRABEN (Buch 11)

ГњBERFAHREN (Buch 12)

GEFANGEN (Buch 13)

RUHEND (Buch 14)



MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TГ–TET (Buch 1)

BEVOR ER SIEHT (Buch 2)

BEVOR ER BEGEHRT (Buch 3)

BEVOR ER NIMMT (Buch 4)

BEVOR ER BRAUCHT (Buch 5)

EHE ER FГњHLT (Buch 6)

EHE ER SГњNDIGT (Buch 7)

BEVOR ER JAGT (Buch 8)

VORHER PLГњNDERT ER (Buch 9)

VORHER SEHNT ER SICH (Buch 10)



AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Buch 1)

LAUF (Buch 2)

VERBORGEN (Buch 3)

GRГњNDE DER ANGST (Buch 4)

RETTE MICH (Buch 5)

ANGST (Buch 6)



KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Buch 1)

EINE SPUR VON MORD (Buch 2)

EINE SPUR VON SCHWГ„CHE (Buch 3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Buch 4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Buch 5)




Kapitel eins


Eliza Longworth nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee, als sie über den Pazifik hinausblickte und die Aussicht – nur wenige Schritte von ihrem Schlafzimmer entfernt – bewunderte. Manchmal musste sie sich vor Augen führen, wie viel Glück sie hatte.

Ihre Freundin Penelope Wooten saß in der angrenzenden Lounge auf der Terrasse mit Blick auf den Los Liones Canyon. Es war ein relativ wolkenloser Tag im März und in der Ferne war die Insel Catalina zu sehen. Zu ihrer Linken konnte Eliza die funkelnden Türme des Zentrums von Santa Monica sehen.

Es war Montag Vormittag. Die Kinder waren in die Kindertagesstätte und Schule gebracht worden und der Berufsverkehr hatte nachgelassen. Die beiden langjährigen Freundinnen würden es sich bis zum Mittagessen in der dreistöckigen Pazifik-Villa gut gehen lassen. Wenn sie im Moment nicht so glücklich wäre, könnte sie sich sogar ein wenig schuldig fühlen. Aber als ihr der Gedanke in den Sinn kam, verdrängte sie ihn sofort.

Du wirst später noch genug Zeit haben, um dich zu stressen. Gönne dir einfach diesen Moment.

„Möchtest du noch einen Kaffee?“ fragte Penny. „Ich muss sowieso aufs stille Örtchen.“

„Nein, danke. Im Moment nicht“, sagte Eliza, bevor sie mit einem schelmischen Grinsen hinzufügte, „du weißt, dass du einfach Klo sagen kannst, wenn nur Erwachsene da sind, oder?“

Penny streckte ihr als Reaktion darauf die Zunge aus, als sie aufstand und ihre unglaublich langen Beine zum Vorschein kamen. Sie sahen aus wie die Beine einer Giraffe, die nach einem Nickerchen aufstand. Ihr langes, glänzendes, blondes Haar, das so viel stilvoller war als Elizas schulterlanges hellbraunes Haar, war zu einem modischen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie sah immer noch aus wie das Model, das sie für einen Großteil ihrer zwanziger Jahre war, bevor sie es für ein zugegebenermaßen weniger aufregendes, aber weitaus weniger manisches Leben aufgab.

Sie ging nach drinnen und ließ Eliza mit ihren Gedanken allein. Ihre Gedanken kehrten fast inständig zu dem Gespräch von vor ein paar Minuten zurück. Sie ging es im Kopf immer wieder durch, als könnte sie die Wiederholungsschleife nicht abstellen.

„Gray wirkt in letzter Zeit so distanziert“, hatte Eliza gesagt. „Unsere einzige Priorität war es immer, mit den Kindern ein Familienessen einzuhalten. Aber seit er Seniorpartner ist, hat er all diese Dinner-Meetings.“

„Ich bin sicher, er ist genauso frustriert wie du“, hatte Penny ihr versichert. „Sobald sich die Dinge beruhigt haben, wirst du wahrscheinlich zu deiner alten Routine zurückfinden.“

„Ich kann damit umgehen, dass er seltener zu Hause ist. Ich verstehe das. Er hat jetzt mehr Verantwortung für den Erfolg der Firma. Aber was mich beunruhigt, ist, dass er keine Verlustängste zu haben scheint. Er hat nie sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, dass er etwas verpasst. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er es bemerkt.“

„Ich bin sicher, das tut er, Lizzie“, hatte Penny gesagt. „Er fühlt sich wahrscheinlich nur schuldig deswegen. Anzuerkennen, was er verpasst, würde es noch viel schlimmer machen. Ich wette, er verdrängt es. Das mache ich manchmal.“

„Was genau?“ fragte Eliza.

„So zu tun, als ob etwas, das ich in meinem Leben tue, das nicht wirklich bewundernswert ist, keine große Sache ist, denn zuzugeben, dass es eine große Sache ist, würde mich nur noch schlechter fühlen lassen.“

„Was machst du denn, was so schlimm ist?“ fragte Eliza spöttisch.

„Erst letzte Woche habe ich eine halbe Dose Pringles auf einmal gegessen, zum Beispiel. Und dann habe ich die Kinder angeschrieen, weil sie Eis als Nachspeise wollten. Das zum Beispiel.“

„Du hast Recht. Du bist ein schrecklicher Mensch.“

Penny streckte ihre Zunge heraus, bevor sie reagierte. Penny war gut darin, ihre Zunge herauszustecken.

„Ich möchte damit sagen, dass er sich vielleicht dessen nicht so bewusst ist, wie es scheint. Hast du schonmal über eine Therapie nachgedacht?“

„Du weißt, dass ich nicht an diesen Mist glaube. Außerdem, warum sollte ich einen Therapeuten aufsuchen, wenn ich doch dich habe? Mit der Penny-Therapie und Yoga geht’s mir emotional super. Apropos, steht unser Treffen morgen früh bei dir zu Hause noch?“

„Klar.“

Wenn man alle Scherze beiseite schob und nГјchtern darГјber nachdachte, war die Eheberatung vielleicht doch keine so schlechte Idee. Eliza wusste, dass Penny und Colton jede zweite Woche zur Therapie gingen und sie schienen daran zu wachsen. Wenn sie gehen wГјrde, wusste sie, dass zumindest ihre beste Freundin sie nicht dafГјr verurteilen wГјrde.

Sie hatten sich schon in der Grundschule immer gegenseitig verteidigt. Sie erinnerte sich noch daran, dass Kelton Prew an ihren Zöpfen gezogen und Penny ihn gegen das Schienbein getreten hatte. Das war am ersten Tag in der dritten Klasse. Seitdem waren sie beste Freundinnen.

Sie hatten sich gegenseitig durch unzählige schwierige Zeiten geholfen. Eliza war für Penny da gewesen, als sie in der Schule gegen Bulimie kämpfte. In ihrem zweiten Studienjahr war Penny diejenige gewesen, die sie davon überzeugt hatte, dass es sich bei der Verabredung mit Ray Houson nicht nur um ein schlechtes Date handelte, sondern dass er sie vergewaltigt hatte.

Penny ging mit ihr zur Polizei auf dem Campus und setzte sich in den Gerichtssaal, um sie bei ihrer Aussage moralisch zu unterstГјtzen. Und als der Tennistrainer sie aus dem Team werfen und ihr das Stipendium entziehen wollte, weil sie immer noch nicht gut genug war, machte sich Penny auf den Weg zu ihm, um ihm anzudrohen, dass ihre Freundin ihn verklagen wГјrde. Eliza blieb im Team und wurde im dritten Studienjahr zur Spielerin des Jahres gekГјrt.

Als Eliza eine Fehlgeburt erlitt, nachdem sie achtzehn Monate lang versucht hatte, schwanger zu werden, besuchte Penny sie jeden Tag, bis sie endlich bereit dazu war, aus dem Bett zu kriechen. Und als Pennys Г¤lterer Sohn, Colt Jr., mit Autismus diagnostiziert wurde, war es Eliza, die wochenlang suchte und schlieГџlich die Schule fand, die dazu bereit war, ihn aufzunehmen.

Sie hatten so viele Höhen und Tiefen zusammen erlebt, dass sie sich gerne die Westside Warriors nannten, auch wenn ihre Männer den Namen für lächerlich hielten. Wenn Penny ihr also vorschlug, das Thema Eheberatung noch einmal zu überdenken, sollte sie es vielleicht tun.

Eliza wurde durch das Klingeln von Pennys Handy aus ihren Gedanken gerissen. Sie griff nach dem Handy und wollte ihrer Freundin mitteilen, wer ihr eine Nachricht geschickt hatte. Aber als sie den Absender sah, Г¶ffnete sie die Nachricht. Sie war von Gray Longworth, Elizas Mann. Dort stand:

Ich kann es kaum erwarten, dich heute Abend zu sehen. Ich vermisse deinen Duft. Drei Tage ohne dich ist zu lang. Ich habe Lizzie gesagt, dass ich mit meinem Partner zum Abendessen verabredet bin. Gleiche Zeit und Ort wie immer?

Eliza legte das Handy weg. Ihr war plötzlich schwindelig und sie fühlte sich schwach. Die Tasse rutschte ihr aus der Hand, schlug auf den Boden und zerbrach in Tausende von Scherben.

Penny kam nach drauГџen gerannt.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie. „Ich habe gehört, dass etwas runtergefallen ist.“

Sie blickte auf die Tasse, sah die Kaffeespritzer auf dem Boden und blickte dann in Elizas fassungsloses Gesicht.

„Was ist los?“, fragte sie.

Elizas Augen bewegten sich unwillkürlich auf Pennys Handy und sie beobachtete, wie ihre Freundin ihrem Blick folgte. Sie erkannte in Penelopes Augen, dass sie zwei und zwei zusammenzählte. Sie hatte verstanden, was ihre älteste, liebste Freundin so erschreckt haben musste.

„Es ist nicht so, wie es scheint“, sagte Penny ängstlich und versuchte nicht, das zu leugnen, was sie beide wussten.

„Wie konntest du nur?“ forderte Eliza, kaum in der Lage, die Worte herauszubekommen. „Ich habe dir mehr vertraut als jedem anderen auf der Welt. Und du tust sowas?“

Sie fühlte sich, als hätte jemand eine Falltür unter ihr geöffnet und sie würde in eine Grube des Nichts stürzen. Alles, worauf ihr Leben aufgebaut war, schien vor ihren Augen zu zerfallen. Sie dachte, sie müsste sich jeden Moment übergeben.

„Bitte, Eliza“, bettelte Penny und kniete neben ihrer Freundin nieder. „Lass es mich erklären. Es ist passiert, aber es war ein Fehler, den ich seitdem versuche wieder gut zu machen.“

„Ein Fehler?“ wiederholte Eliza und saß aufrecht in ihrem Stuhl, als sich Übelkeit mit Wut vermischte. „Ein Fehler ist, an einem Bordstein zu stolpern und jemanden umzuschubsen. Ein Fehler ist nicht, dass du den Mann deiner besten Freundin versehentlich in dich eindringen lässt, Penny!“

„Ich weiß“, bestätigte Penny, ihre Stimme erstickte vor Bedauern. „Das hätte ich nicht sagen sollen. Es war eine schreckliche Entscheidung, die ich in einem Moment der Schwäche getroffen habe, wir hatten zu viele Gläser Viognier getrunken. Ich habe ihm gesagt, dass es vorbei ist.“

„‚Vorbei' deutet darauf hin, dass es mehr als nur einmal war“, bemerkte Eliza und stand auf. „Wie lange schläfst du schon mit meinem Mann?“

Penny stand still da und Гјberlegte sichtlich, ob es mehr schaden als nГјtzen wГјrde, ehrlich zu sein.

„Etwa einen Monat“, gab sie schließlich zu.

Plötzlich machte die Zeit mehr Sinn, in der ihr Mann von ihrer Familie getrennt gewesen war. Jede neue Offenbarung war ein neuer Schlag in die Magengrube. Eliza spürte, dass das Einzige, was sie vom Zusammenbruch abhalten konnte, ihr Gefühl für rechtschaffene Wut war.

„Lustig“, sagte Eliza ernst. „Das ist ungefähr so lange, wie Gray diese abendlichen Treffen mit Partnern hat, von denen du mir erzählt hast, dass er sich wahrscheinlich schlecht fühlt. Was für ein Zufall.“

„Ich dachte, ich könnte es kontrollieren…“ fing Penny an zu sagen.

„Hör auf damit“, sagte Eliza und brachte sie so zum Schweigen. „Wir wissen beide, dass du gierig werden kannst. Aber so?“

„Ich weiß, dass das nichts ändert“, bestand Penny darauf. „Aber ich wollte es beenden. Ich habe seit drei Tagen nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich habe nur versucht, einen Weg zu finden, das mit ihm zu beenden, ohne die Freundschaft zwischen uns zu gefährden.“

„Sieht so aus, als ob du einen neuen Plan brauchen wirst“, fauchte Eliza und kämpfte gegen den Drang, die Scherben der Kaffeetasse in die Richtung ihrer Freundin zu werfen. Nur ihre nackten Füße hinderten sie daran. Sie klammerte sich an ihre Wut und wusste, dass es das Einzige war, was sie davon abhielt, völlig auszuflippen.

„Bitte, lass mich einen Weg finden, das in Ordnung zu bringen. Es muss etwas geben, das ich tun kann.“

„Gibt es“, versicherte Eliza ihr. „Geh!“

Ihre Freundin starrte sie für einen Moment an. Aber sie muss gespürt haben, wie ernst es Eliza war, weil ihr Zögern nur kurzweilig war.

„Okay“, sagte Penny, holte ihre Sachen und lief zur Haustür. „Ich werde gehen. Aber lass uns später reden. Wir haben so viel zusammen durchgemacht, Lizzie. Wir dürfen nicht zulassen, dass das alles ruiniert.“

Eliza hatte damit zu kämpfen, sie nicht zu beschimpfen. Dies könnte das letzte Mal sein, dass sie ihre «Freundin» sah und es war ihr wichtig, dass sie das Ausmaß der Situation verstand.

„Dieses Mal ist es anders“, sagte sie langsam, mit Betonung auf jedem Wort. „All die anderen Male waren wir gegen die Welt, weil wir uns gegenseitig den Rücken gestärkt haben. Diesmal hast du mir ein Messer in den Rücken gerammt. Unsere Freundschaft ist vorbei.“

Dann schlug sie die TГјr in das Gesicht ihrer besten Freundin.




Kapitel zwei


Jessie Hunt wachte auf und war sich nicht sicher, wo sie sich befand. Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder erinnerte, dass sie in der Luft war – auf einem Montagmorgenflug von Washington, D.C. zurück nach Los Angeles. Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie erst in zwei Stunden landen würde.

Sie setzte sich aufrecht hin, nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche, die sie in die RГјckentasche des Vordersitzes gesteckt hatte und versuchte so, nicht gleich wieder einzuschlafen.

Sie hatte guten Grund, ein Nickerchen zu machen. Die letzten zehn Wochen waren die anstrengendsten ihres Lebens. Sie hatte gerade die Nationale FBI Academy abgeschlossen, ein intensives Trainingsprogramm für Strafverfolgungsbehörden, das entwickelt wurde, um sie mit den FBI-Untersuchungsmethoden vertraut zu machen.

Das exklusive Programm stand nur denjenigen zur Verfügung, die von ihren Vorgesetzten zur Teilnahme nominiert wurden. Wenn man nicht in Quantico akzeptiert wurde, um ein formaler FBI-Agent zu werden, war dieser Crashkurs das Nächstbeste.

Unter normalen Umständen wäre Jessie nicht berechtigt gewesen teilzunehmen. Bis vor kurzem war sie nur eine Junior-Kriminalprofilerin beim LAPD. Aber nachdem sie einen hochkarätigen Fall gelöst hatte, war ihre Aktie schnell gestiegen.

Rückblickend verstand Jessie, warum die Akademie erfahrenere Offiziere bevorzugte. In den ersten zwei Wochen des Programms hatte sie sich völlig überflutet gefühlt von der schieren Menge an Informationen, die auf sie einprasselte. Sie belegte Kurse in forensischer Wissenschaft, Recht, terroristischer Denkweise und ihrem Schwerpunkt, der Verhaltenswissenschaft, die darauf abzielte, in die Köpfe von Mördern einzudringen, um ihre Motive besser zu verstehen. Und nichts davon beinhaltete das unerbittliche körperliche Training, das jeden Muskel schmerzen ließ.

Schlussendlich kam sie dann doch noch zurecht. Die Kurse, die an ihre jüngste Abschlussarbeit in Kriminalpsychologie erinnerten, begannen Sinn zu machen. Nach etwa einem Monat schrie ihr Körper nicht mehr vor Schmerzen, wenn sie morgens aufwachte. Und das Beste von allem: die Zeit, die sie in der Behavioral Sciences Unit verbrachte, ermöglichte es ihr, mit den besten Serienmörder-Experten der Welt zu interagieren. Sie hoffte, eines Tages einer von ihnen zu sein.

Es gab einen zusätzlichen Vorteil. Weil sie so hart arbeitete – sowohl geistig als auch körperlich – träumte sie kaum. Oder zumindest hatte sie keine Alpträume.

Zu Hause wachte sie oft schreiend in kaltem Schweiß gebadet auf, wenn sie Erinnerungen an ihre Kindheit oder an ihre neueren Traumata, die in ihrem Unterbewusstsein präsent waren, einholten. Sie erinnerte sich noch an den jüngsten Grund ihrer Angst. Es war ihr letztes Gespräch mit dem inhaftierten Serienmörder Bolton Crutchfield, in dem er ihr gesagt hatte, dass er bald mit ihrem eigenen mörderischen Vater plaudern würde.

Wenn sie in den letzten zehn Wochen in LA gewesen wäre, hätte sie die meiste Zeit damit verbracht, darüber nachzudenken, ob Crutchfield die Wahrheit gesagt oder sie verarscht hatte. Und wenn er ehrlich war, wie konnte er es dann schaffen, ein Gespräch mit einem mehrfachen Mörder zu koordinieren, während er in einer sicheren Psychiatrie festgehalten wird?

Aber da sie Tausende von Kilometern entfernt war und sich für fast jede wache Sekunde auf unerbittlich herausfordernde Aufgaben konzentrierte, war sie nicht in der Lage gewesen, über Crutchfields Aussage nachzudenken. Sie würde es wahrscheinlich bald wieder tun, aber noch nicht jetzt. Im Moment war sie einfach zu müde, um mit dem Thema umgehen zu können.

Als sie sich in ihrem Sitz wieder zurГјcklehnte und langsam wieder einschlief, hatte Jessie einen Gedanken.

Also, alles, was ich tun muss, um für den Rest meines Lebens gut schlafen zu können, ist jeden Morgen zu trainieren, bis ich mich fast übergebe, gefolgt von zehn Stunden ununterbrochenem professionellem Unterricht. Klingt nach einem guten Plan.

Bevor sie ein wenig lächeln konnte, war sie bereits wieder eingeschlafen.


* * *

Dieses Gefühl von gemütlichem Komfort verschwand in dem Moment, als sie kurz nach Mittag den Flughafen LAX verließ. Von diesem Moment an musste sie wieder ständig auf der Hut sein. Schließlich war, wie sie vor ihrer Abreise nach Quantico erfahren hatte, ein nie gefangener Serienmörder auf der Suche nach ihr. Xander Thurman suchte sie schon seit Monaten. Thurman war zufälligerweise auch ihr Vater.

Sie nahm ein Taxi vom Flughafen zur Arbeit, der zentralen Polizeistation in der Innenstadt von LA. Sie wГјrde erst morgen wieder offiziell zu arbeiten beginnen und war nicht in der Stimmung zu plaudern, also ging sie nicht einmal in das GroГџraumbГјro des Reviers.

Stattdessen ging sie zu ihrem zugewiesenen Briefkasten und holte ihre Post, die aus einem Postfach weitergeleitet worden war. Niemand – nicht ihre Arbeitskollegen, nicht ihre Freunde, nicht einmal ihre Adoptiveltern – kannten ihre derzeitige Adresse. Sie hatte die Wohnung über eine Leasinggesellschaft gemietet; ihr Name stand nirgendwo auf dem Vertrag und es gab keine Formalitäten, die sie mit dem Gebäude in Verbindung brachten.

Nachdem sie die Post geholt hatte, ging sie einen Flur entlang zur StraГџe, wo immer Taxis in der angrenzenden Gasse warteten. Sie sprang in eines und lieГџ sich zum etwa zwei Kilometer entfernten Einkaufszentrum bringen, das sich neben ihrem Apartmentkomplex befand.

Ein Grund, warum sie sich für diese Wohnung entschieden hatte, nachdem ihre Freundin Lacy darauf bestanden hatte, dass sie auszieht, war, dass es schwierig war, sie zu finden. Außerdem war sie ohne Erlaubnis schwer zugänglich. Zuerst einmal befand sich die Parkstruktur unter dem angrenzenden Einkaufszentrum im selben Gebäude, so dass es für jeden, der ihr folgte, schwierig sein würde, festzustellen, wohin sie fuhr.

Selbst wenn es jemand herausfinden würde, hatte das Gebäude einen Portier und einen Wachmann. Sowohl für die Haustür als auch für die Aufzüge benötigte man Keycards. Und keine der Wohnungen selbst hatte außen aufgelistete Wohnungsnummern. Die Bewohner mussten sich einfach merken, welche ihre war.

Dennoch traf Jessie zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen. Als das Taxi, für das sie mit Bargeld bezahlte, sie abgesetzt hatte, ging sie in das Einkaufszentrum. Zuerst ging sie schnell durch ein Café und schlängelte sich durch die Menge, bevor sie einen Seitenausgang nahm.

Dann zog sie die Kapuze ihres Sweatshirts über ihr schulterlanges braunes Haar und ging durch einen Food Court zu einem Flur, in dem sich Toiletten neben einer Tür mit der Aufschrift „Staff Only“ befanden. Sie machte die Toilettentür der Frauen auf, so dass jeder, der ihr folgte, sehen würde, wie sie sich schloss und davon ausgehen musste, dass sie in der Damen-Toilette verschwunden war. Stattdessen eilte sie, ohne zurückzublicken, durch den Mitarbeitereingang, der ein langer Flur mit Hintertüren zu jedem Unternehmen war.

Sie lief durch den langen Flur, bis sie an ein Treppenhaus mit dem Schild «Wartungsarbeiten» gelangte. Sie eilte so leise wie möglich die Treppe hinunter und benutzte die Keycard, die sie vom Hausmeister erhalten hatte, um auch diese Tür zu öffnen. Sie hatte eine Sondergenehmigung für diesen Bereich ausgehandelt, die auf ihrer LAPD-Verbindung basierte, anstatt zu erklären, dass ihre Vorsichtsmaßnahmen mit einem frei herumlaufenden Serienmörder zusammenhängen, der ihr Vater war.

Die Tür zu den Wartungsarbeiten schloss sich und verriegelte sich hinter ihr, als sie sich den Weg durch einen schmalen Gang mit freiliegenden Rohren, die in alle Richtungen herausragten, und Metallboxen, die Werkzeug beinhalteten, das sie nicht kannte, bahnte. Nach einigen Minuten des Ausweichens zwischen den Hindernissen erreichte sie eine kleine Nische in der Nähe eines großen Boilers.

Auf halbem Weg den Gang hinunter war ein Bereich unbeleuchtet und leicht zu Гјbersehen. Man musste es ihr beim ersten Mal hier unten zeigen. Sie trat in die Nische, als sie den alten SchlГјssel herauszog, den man ihr gegeben hatte. Das Schloss zu dieser TГјr war ein altmodisches. Sie drehte ihn, stieГџ die schwere TГјr auf und schloss sie schnell hinter sich.

Sie befand sich jetzt im Versorgungsraum im Untergeschoss ihres Apartmentkomplexes und war nun offiziell vom Einkaufszentrum in den Apartmentkomplex gelangt. Sie eilte durch den abgedunkelten Raum und stolperte fast Гјber eine auf dem Boden liegende Wanne mit Bleichmittel. Sie Г¶ffnete diese TГјr, eilte durch das leere BГјro des Instandhaltungsleiters und ging das enge Treppenhaus hinauf, das sich im hinteren Bereich des Erdgeschosses des Wohnhauses befand.

Sie ging um die Ecke zu den Aufzügen, wo sie Jimmy, den Türsteher, und Fred, den Wachmann, freundlich mit einem Bewohner in der vorderen Lobby plaudern hörte. Sie hatte jetzt keine Zeit, mit ihnen zu quatschen, nahm sich aber fest vor, das später nachzuholen.

Beide waren nette Jungs. Fred war ein ehemaliger Streifenpolizist, der nach einem schweren Motorradunfall vorzeitig aufgehört hatte. Er hatte eine schlaffe und große Narbe auf seiner linken Wange davongetragen, aber das hinderte ihn nicht daran, ständig herumzualbern. Jimmy, Mitte zwanzig, war ein süßer, ernsthafter Junge, der mit diesem Job sein Studium bezahlte.

Sie ging durch die Diele zum Dienstaufzug, der von der Lobby aus nicht sichtbar war, steckte ihre Karte hinein und wartete gespannt, ob ihr jemand gefolgt war. Sie wusste, dass die Chancen gering waren, aber das hielt sie nicht davon ab, nervös von einem Fuß auf den anderen zu wechseln.

Sobald er da war, trat sie ein, drГјckte den Knopf fГјr den vierten Stock und dann den zum SchlieГџen der TГјr. Als sich die TГјren Г¶ffneten, eilte sie den Flur hinunter, bis sie bei ihrer Wohnung ankam. Sie nahm sich einen Moment Zeit, um Luft zu holen und betrachtete ihre TГјr.

Auf den ersten Blick sah sie so unscheinbar aus wie alle anderen auf dem Stockwerk. Aber sie hatte mehrere Sicherheitsvorkehrungen anbringen lassen, als sie eingezogen war. Zuerst trat sie zurück, so dass sie einen Meter von der Tür entfernt und in direkter Linie mit dem Guckloch war. Ein mattes grünes Leuchten, das aus keinem anderen Winkel sichtbar war, ging vom Rand um das Loch herum aus, ein Hinweis darauf, dass nicht gewaltsam eingedrungen wurde. Wäre das der Fall gewesen, wäre der Rand um das Guckloch herum rot gewesen.

Neben der von ihr installierten Klingelkamera gab es außerdem mehrere versteckte Kameras im Flur. Sie boten einen direkten Blick auf ihre Tür. Eine weitere nahm den Flur bei den Aufzügen auf sowie das angrenzende Treppenhaus. Eine dritte war auf die andere Richtung des zweiten Treppenhauses gerichtet. Sie hatte sie auf dem Weg hierher im Taxi überprüft und konnte für den heutigen Tag keine verdächtigen Bewegungen um ihre Wohnung herum feststellen.

Der nächste Schritt war der Eintritt. Sie benutzte einen traditionellen Schlüssel, um ein Schloss zu öffnen, dann steckte sie ihre Karte in ein weiteres Schloss und hörte, wie sich auch der andere Schiebebolzen öffnete. Sie trat ein und der Alarm des Bewegungssensors ging los. Sie ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen und ignorierte den Alarm, verriegelte beide Türen wieder und legte auch das Kettenschloss an. Erst dann gab sie den achtstelligen Code ein.

Danach packte sie den Schlagstock, der hinter der TГјr versteckt war und eilte ins Schlafzimmer. Sie hob den abnehmbaren Bilderrahmen neben dem Lichtschalter hoch, um das versteckte Sicherheitspaneel zu enthГјllen, und gab den vierstelligen Code fГјr den zweiten, stillen Alarm ein, der direkt zur Polizei geht, wenn sie ihn nicht innerhalb von vierzig Sekunden deaktiviert.

Erst dann atmete sie durch. Während sie langsam ein- und ausatmete, ging sie mit dem Schlagstock in der Hand durch die kleine Wohnung und war auf alles gefasst. Das Durchsuchen der ganzen Wohnung, einschließlich der Schränke, der Dusche und der Speisekammer, dauerte weniger als eine Minute.

Als sie sich sicher war, dass sie allein und somit in Sicherheit war, überprüfte sie das halbe Dutzend Kameras, die sie in der gesamten Wohnung platziert hatte. Dann überprüfte sie die Schlösser an den Fenstern. Alles war in Ordnung. Dann blieb noch ein letzter Ort übrig, den es zu überprüfen galt.

Sie ging ins Badezimmer und öffnete den schmalen Schrank, in dem sich Zubehör wie extra Toilettenpapier, eine Saugglocke, einige Stück Seife, Duschgel und Glasreiniger befanden. Auf der linken Seite des Schranks befand sich eine kleine Schließe, die nicht sichtbar war, es sei denn, man wusste, wo man suchen musste. Sie drehte sie um und spürte den versteckten Riegel-Klick.

Der Schrank Г¶ffnete sich und enthГјllte einen extrem schmalen Schaft dahinter, an dessen Wand eine Strickleiter befestigt war. Das Rohr und die Leiter erstreckten sich von ihrer Wohnung im vierten Stock hinunter in die WaschkГјche im Keller. Es wurde als ihr letzter Notausgang konzipiert, fГјr den Fall, dass alle anderen SicherheitsmaГџnahmen fehlschlugen. Sie hoffte, sie wГјrde es nie brauchen.

Sie schloss den Schrank und wollte ins Wohnzimmer zurГјckkehren, als sie sich im Badezimmerspiegel erblickte. Es war das erste Mal, dass sie sich selbst wirklich lange ansah, seit sie gegangen war. Sie mochte, was sie sah.

Von außen sah sie nicht viel anders aus als zuvor. Sie hatte Geburtstag, als sie beim FBI war und war nun 29 Jahre alt, aber sie sah nicht älter aus. Tatsächlich dachte sie, dass sie besser aussah, als damals, als sie gegangen war.

Ihr Haar war noch braun, aber es schien irgendwie gesünder, weniger stumpf als damals, als sie LA vor all den Wochen verlassen hatte. Trotz der langen Tage beim FBI funkelten ihre grünen Augen vor Energie und hatten nicht mehr die dunklen Schatten darunter, die ihr so vertraut geworden waren. Sie war immer noch mager und 1,77 Meter groß, aber sie fühlte sich stärker und kräftiger als zuvor. Ihre Arme waren straffer und ihr Bauch war fest von endlosen Sit-ups und Liegestützen. Sie fühlte sich… vorbereitet.

Sie ging ins Wohnzimmer und machte schließlich das Licht an. Es dauerte eine Sekunde, bis ihr wieder bewusst wurde, dass alle Möbel im Raum ihre waren. Sie hatte das meiste davon gekauft, kurz bevor sie nach Quantico aufgebrochen war. Sie hatte keine große Auswahl. Sie hatte das ganze Zeug aus dem Haus verkauft, das sie mit ihrem soziopathischen, derzeit inhaftierten Ex-Mann Kyle besessen hatte. Eine Zeitlang war sie bei ihrer alten Freundin aus Studienzeiten, Lacy Cartwright, untergekommen. Aber nachdem von jemandem, der Jessie im Namen von Bolton Crutchfield eine Nachricht überbringen sollte, eingebrochen wurde, hatte Lacy darauf bestanden, dass sie sofort auszieht.

Also hatte sie genau das getan und eine Weile in einem Hotel gewohnt, bis sie eine Wohnung gefunden hatte, die ihren Sicherheitsbedürfnissen entsprach. Aber sie war unmöbliert, also hatte sie einen Teil ihres Geldes aus der Scheidung auf einmal für Möbel und Gerätschaften ausgegeben. Da sie so kurz nach dem Kauf von alledem zur Nationalen Akademie des FBI aufbrechen musste, hatte sie noch keine Möglichkeit gehabt, die Möbel zu genießen.

Jetzt hoffte sie, das nachholen zu können. Sie setzte sich auf den Sessel, lehnte sich zurück und entspannte sich. Neben ihr auf dem Boden stand ein Karton mit der Aufschrift „Sachen zum Durchsehen“. Sie hob ihn auf und fing an, alles durchzusehen. Das meiste davon war Papierkram, mit dem sie sich jetzt nicht befassen wollte. Ganz unten in der Box befand sich ein Hochzeitsfoto von ihr und Kyle im 8x10 Format.

Sie starrte es fast unverständlich an, erstaunt darüber, dass die Person, die dieses Leben führte, diejenige war, die jetzt hier saß. Vor fast einem Jahrzehnt, während ihres zweiten Studienjahres an der USC, hatte sie begonnen, sich mit Kyle Voss zu treffen. Sie waren kurz nach dem Abschluss zusammengezogen und hatten vor drei Jahren geheiratet.

Lange Zeit schien alles großartig zu laufen. Sie lebten in einer coolen Wohnung unweit von hier in der Innenstadt von Los Angeles, oder DTLA (Downtown Los Angeles), wie es oft genannt wird. Kyle hatte einen guten Job in der Finanzbranche und Jessie war dabei, ihren Master-Abschluss zu machen. Ihr Leben war toll. Sie gingen in neue Restaurants und probierten die angesagten Bars aus. Jessie war glücklich und hätte wahrscheinlich noch lange so weitermachen können.

Aber dann wurde Kyle befördert und sollte nach Orange County. Er bestand darauf, dass sie dort in ein großes Haus ziehen. Jessie hatte zugestimmt, trotz ihrer Befürchtungen. Erst dann wurde Kyles wahres Ich enthüllt. Er war besessen davon, einem geheimen Club beizutreten, der sich als Fassade für einen Prostituiertenring erwies. Er begann eine Affäre mit einer der Frauen dort. Und als es aufzufliegen drohte, tötete er sie und versuchte, Jessie den Mord anzuhängen. Und als Jessie hinter seinen Plan kam, versuchte er, auch sie zu töten.

Aber selbst jetzt, als sie das Hochzeitsfoto betrachtete, konnte sie keinen Hinweis darauf erkennen, wozu ihr Mann letztendlich fähig war. Er wirkte wie ein gutaussehender, liebenswürdiger, entgegenkommender Traummann. Sie zerknitterte das Foto und warf es in Richtung des Mülleimers in der Küche. Es landete direkt in der Mitte und gab ihr ein unerwartetes erlösendes Gefühl.

Mensch! Das muss etwas zu bedeuten haben.

Diese Wohnung hatte etwas Befreiendes. Alles – die neuen Möbel, der Mangel an persönlichen Erinnerungsstücken, sogar die grenzwertigen paranoiden Sicherheitsmaßnahmen – gehörte zu ihr. Das war ihr Neuanfang.

Sie dehnte sich und ließ ihre Muskeln sich nach dem langen Flug in dem engen Flugzeug entspannen. Diese Wohnung war ihre – der erste Ort seit über sechs Jahren, über den sie das wirklich sagen konnte. Sie konnte Pizza auf der Couch essen und die Schachtel herumliegen lassen, ohne sich Sorgen zu machen, dass sich jemand darüber beschwerte. Nicht, dass sie der Typ dazu wäre, das zu tun. Aber es ging ihr ums Prinzip – sie konnte es.

Der Gedanke an Pizza machte sie plötzlich hungrig. Sie stand auf und schaute in den Kühlschrank. Er war nicht nur leer, er war noch nicht einmal eingeschaltet. Erst dann erinnerte sie sich daran, dass sie ihn so gelassen hatte, denn sie sah keinen Grund darin, den Strom zu bezahlen, wenn sie zweieinhalb Monate lang weg sein würde.

Sie steckte ihn an, fühlte sich unruhig und beschloss, einkaufen zu gehen. Dann hatte sie eine andere Idee. Da sie erst morgen wieder arbeiten würde und es noch nicht zu spät war, gab es einen weiteren Halt, den sie machen wollte: Sie wollte einen Ort – und eine Person – aufsuchen, von der sie wusste, dass sie sie schließlich besuchen musste.

Sie hatte es geschafft, die meiste Zeit in Quantico nicht daran zu denken, aber da war immer noch die Sache mit Bolton Crutchfield. Sie wusste, dass sie vergessen sollte, dass er sie bei ihrem letzten Treffen geködert hatte.

Und doch musste sie es wissen: Hatte Crutchfield wirklich einen Weg gefunden, sich mit ihrem Vater, Xander Thurman, dem Henker der Ozarks, zu treffen? Hatte er einen Weg gefunden, den Mörder unzähliger Menschen, darunter auch ihre Mutter, zu kontaktieren? Den Mann, der sie, ein sechsjähriges Mädchen, neben dem Körper gefesselt zurückgelassen hatte, um in einer eisigen, abgelegenen Hütte dem sicheren Tod ins Auge zu blicken?

Sie war dabei, es herauszufinden.




Kapitel drei


Eliza wartete, als Gray in dieser Nacht nach Hause kam. Er kam rechtzeitig zum Abendessen. Der Blick in seinem Gesicht verriet jedoch, dass er wusste, was auf ihn zukommen wГјrde. Da Millie und Henry ebenso am Tisch saГџen und ihre Mac & Cheese mit Hot Dog aГџen, sagte kein Elternteil etwas Гјber die Situation.

Erst nachdem die Kinder schlafen gegangen waren, kam es zur Sprache. Eliza stand in der KГјche, als Gray hereinkam, nachdem er die Kinder ins Bett gebracht hatte. Er hatte seinen Anzug ausgezogen, trug aber immer noch seine lockere Krawatte. Sie vermutete, dass es darum ging, ihn glaubwГјrdiger aussehen zu lassen.

Gray war kein großer Mann. Bei 1,75 und 80 Kilo war er nur einen Zentimeter größer als sie, obwohl er um gut 15 Kilo schwerer war. Aber beide wussten, dass er in T-Shirt und Jogginghose weit weniger imposant wirkte. Ein Anzug war seine Rüstung.

„Bevor du etwas sagst“, begann er, „lass mich bitte versuchen, es zu erklären.“

Eliza, die einen Großteil des Tages damit verbracht hatte, darüber nachzudenken, wie das hatte passieren können, freute sich, ihre Qualen vorübergehend in den Hintergrund zu stellen und ihm

zu erlauben, sich zu erklären.

„Bitte, ich höre“, sagte sie.

„Zuerst einmal tut es mir leid. Egal, was ich jetzt sage, ich möchte, dass du weißt, dass es mir leid tut. Ich hätte es nie zulassen dürfen. Es ist in einem Moment der Schwäche passiert. Sie kennt mich seit Jahren und kannte meine Schwachstellen, und wusste, was mein Interesse wecken würde. Ich hätte es besser wissen sollen, aber ich bin darauf reingefallen.“

„Was sagst du da?“ fragte Eliza, verblüfft und verletzt gleichzeitig. „Dass Penny eine Verführerin ist, die dich manipuliert hat, damit du eine Affäre mit ihr anfängst? Wir wissen beide, dass du ein schwacher Mann bist, Gray, aber willst du mich verarschen?“

„Nein“, sagte er und entschied sich, nicht auf den «schwachen» Kommentar einzugehen. „Ich übernehme die volle Verantwortung für mein Handeln. Ich hatte drei Whiskeys. Ich sah ihre Beine im Kleid mit dem Schlitz an der Seite. Und sie wusste, was mich heiß macht. Ich schätze, sie kennt mich gut, nach all den Gesprächen, die ihr beide im Laufe der Jahre miteinander geführt habt. Sie wusste, dass sie mit ihrer Fingerspitze entlang meines Unterarms streicheln musste. Sie wusste, wie sie mit mir sprechen musste, sie schnurrte mir schon fast ins linke Ohr. Sie wusste wahrscheinlich, dass du so etwas schon lange nicht mehr gemacht hattest. Und sie wusste, dass du nicht zu dieser Cocktailparty kommen würdest, weil du zu Hause warst und wegen der Schlaftabletten, die du fast jede Nacht nimmst, geschlafen hast.“

Es entstand eine kurze Stille und Eliza versuchte, sich zu beruhigen. Als sie sich sicher war, dass sie nicht schreien wГјrde, antwortete sie mit einer schockierend leisen Stimme.

„Gibst du mir die Schuld dafür? Es hört sich so an, dass du nicht zum Zug kommst, weil ich nachts nicht schlafen kann.“

„Nein, so habe ich es nicht gemeint“, schniefte er und wich zurück. „Es ist nur so, dass du nachts immer Schwierigkeiten hast zu schlafen. Und du scheinst nie wirklich daran interessiert zu sein, mit mir wach zu bleiben.“

„Nur um das klarzustellen, Grayson – du sagst, dass du mir nicht die Schuld gibst. Aber dann gehst du sofort dazu über zu sagen, dass ich immer zu sehr auf Valium bin und dir nicht genug Aufmerksamkeit schenke, also musstest du mit meiner besten Freundin Sex haben.“

„Was für eine beste Freundin ist sie überhaupt, wenn sie so etwas tut?“ spuckte Gray verzweifelt aus.

„Lenk nicht ab“, fauchte sie und zwang sich, ihre Stimme ruhig zu halten, teilweise, um die Kinder nicht zu wecken, aber vor allem, weil dies das Einzige war, was sie davon abhielt, durchzudrehen. „Sie steht bereits auf meiner Liste. Jetzt bist du dran. Du hättest nicht zu mir kommen können und sagen können: ‚Hey Schatz, ich würde heute wirklich gerne einen romantischen Abend mit dir verbringen� oder ‚Süße, ich fühle mich in letzter Zeit von dir distanziert. Können wir uns heute Abend annähern?� Das waren keine Optionen für dich?“

„Ich wollte dich nicht aufwecken, um dich mit solchen Fragen zu belästigen“, antwortete er, seine Stimme sanftmütig, aber seine Worte verletzend.

„Also hast du entschieden, dass Sarkasmus hier der richtige Weg ist?“, fragte sie.

„Schau“, sagte er und suchte sich einen Ausweg, „das mit Penny ist vorbei. Das hat sie mir heute Nachmittag gesagt und ich habe zugestimmt. Ich weiß nicht, wie wir das überwinden können, aber ich will es, wenn auch nur der Kinder wegen.“

„Der Kinder wegen?“, wiederholte sie, verblüfft darüber, auf wie vielen Ebenen er gleichzeitig versagen konnte. „Hau einfach ab. Ich gebe dir fünf Minuten, um eine Tasche zu packen und in deinem Auto zu sein. Buch dir ein Hotel bis auf weiteres.“

„Du schmeißt mich aus meinem eigenen Haus?“, fragte er ungläubig. „Das Haus, für das ich bezahlt habe?“

„Nicht nur, dass ich dich rausschmeiße“, zischte sie, „wenn du nicht in fünf Minuten aus der Einfahrt bist, rufe ich die Polizei.“

„Um ihnen was zu sagen?“

„Lass es darauf ankommen“, kochte sie.

Gray starrte sie an. Unerschrocken ging sie zum Telefon und nahm es ab. Erst als er den Wählton hörte, bewegte er sich. Innerhalb von drei Minuten huschte er wie ein Hund mit dem Schwanz zwischen den Beinen aus der Tür, sein Seesack war voller Hemden und Jacken. Ein Schuh fiel heraus, als er durch die Tür eilte. Er bemerkte es nicht und Eliza sagte nichts.

Erst als sie hörte, wie sich das Auto entfernte, legte sie das Telefon wieder in die Ladestation. Sie blickte auf ihre linke Hand hinunter und sah, dass ihre Handfläche blutete, in die sie ihre Nägel hineingegraben hatte. Erst jetzt spürte sie den Schmerz.




Kapitel vier


Obwohl sie aus der Übung war, navigierte Jessie den Verkehr von der Innenstadt LAs aus nach Norwalk ohne allzu große Probleme. Auf dem Weg dorthin beschloss sie ihre Eltern anzurufen, um nicht ständig an ihr bevorstehendes Ziel zu denken.

Ihre Adoptiveltern, Bruce und Janine Hunt, lebten in Las Cruces, New Mexico. Er war pensionierter FBI Agent und sie war pensionierte Lehrerin. Jessie hatte auf dem Weg nach Quantico ein paar Tage mit ihnen verbracht und gehofft, das Gleiche auch auf dem Rückweg tun zu können. Aber zwischen dem Ende des Programms und ihrem erneuten Arbeitsstart blieb nicht genügend Zeit, so dass sie auf den zweiten Besuch verzichten musste. Sie hoffte, sie bald wieder besuchen zu können, besonders da ihre Mutter gerade gegen Krebs kämpfte.

Es war nicht fair. Janine kämpfte seit über einem Jahrzehnt gegen den Krebs, und das war nur die Krönung einer anderen Tragödie, mit der sie vor Jahren zu kämpfen hatte. Kurz bevor sie Jessie mit sechs Jahren aufnahmen, hatten sie ihren kleinen Sohn verloren, ebenfalls an Krebs. Sie waren begierig darauf, die Lücke in ihren Herzen zu füllen, auch wenn das bedeutete, die Tochter eines Serienmörders zu adoptieren, der ihre Mutter ermordet und sie dem Tod überlassen hatte. Da Bruce beim FBI war, erschien die Lösung dem Polizeidirektor, der Jessie in den Zeugenschutz gesteckt hatten, logisch. Auf dem Papier machte alles Sinn.

Sie verdrängte den Gedanken aus ihrem Kopf, als sie ihre Nummer wählte.

„Hi, Pa“, sagte sie. „Wie geht’s?“

„Geht schon“, antwortete er. „Ma schläft. Willst du später noch einmal anrufen?“

„Nein. Wir können ja reden. Ich werde heute Abend mit ihr sprechen oder so. Was ist los?“

Vor vier Monaten hätte sie nur ungern mit ihm gesprochen, ohne ihre Mutter dabei zu haben. Bruce Hunt war ein schwer zu erreichender Mann und Jessie war auch kein Freund der besonderen Zuneigung. Ihre Erinnerungen an ihre Jugend mit ihm waren eine Mischung aus Freude und Frustration. Sie machten Skitouren, gingen campen und wanderten in den Bergen und verbrachten ihren Familienurlaub im sechzig Kilometer entfernten Mexiko.

Aber es gab auch viel Geschrei, besonders als sie ein Teenager war. Bruce war ein Mann, der Disziplin schätzte. Jessie hatte jahrelang wegen des gleichzeitigen Verlustes ihrer Mutter, ihres Namens und ihres Zuhauses Unmut angestaut und neigte dazu, sich aufzuführen. Während ihrer Jahre an der USC und danach sprachen sie wahrscheinlich weniger als fünfundzwanzig Mal miteinander. Gegenseitige Besuche waren selten.

Aber vor kurzem hatte die RГјckkehr von Mamas Krebs sie gezwungen, ohne einen Mittelsmann miteinander zu sprechen. Und das Eis war irgendwie gebrochen. Er war sogar nach LA gekommen, um ihr im Zuge ihrer Erholung nach der Bauchverletzung, die ihr Kyle im letzten Herbst zugefГјgt hatte, zur Seite zu stehen.

„Hier ist alles ruhig“, sagte er und beantwortete ihre Frage. „Ma hatte gestern eine weitere Chemo-Sitzung, deshalb erholt sie sich gerade. Wenn es ihr gut geht, gehen wir vielleicht später essen.“

„Mit der ganzen Cop-Crew?“, fragte sie scherzhaft. Vor einigen Monaten waren ihre Eltern von ihrem Haus in eine Seniorenwohnanlage umgezogen, die hauptsächlich von Rentnern der Las Cruces Polizei, des Sheriff's Department und des FBI bewohnt wurde.

„Nein, nur wir beide. Ich denke an ein Abendessen bei Kerzenlicht. Aber irgendwo, wo wir einen Eimer neben den Tisch stellen können, falls sie kotzen muss.“

„Du bist wirklich ein Romantiker, Pap.“

„Ich versuche es. Wie läuft es bei dir? Ich nehme an, du hast das FBI-Training bestanden.“

„Warum gehst du davon aus?“

„Weil du wusstest, dass ich dich danach fragen würde, und du hättest nicht angerufen, wenn du schlechte Nachrichten hättest.“

Jessie musste ihm eins lassen. FГјr einen alten Hund war er immer noch ziemlich auf Trap.

„Ich habe bestanden“, versicherte sie ihm. „Ich bin jetzt wieder in LA. Ich fange morgen wieder an zu arbeiten und bin gerade Besorgungen machen.“

Sie wollte ihn mit ihrem wirklichen Ziel nicht beunruhigen.

„Das klingt ominös. Warum habe ich das Gefühl, dass du nicht einfach nur Brot kaufen gehst?“

„Ich wollte nicht, dass es so klingt. Ich schätze, ich bin einfach von der ganzen Reise geschafft. Ich bin eigentlich schon fast da“, log sie. „Soll ich heute Abend nochmal anrufen oder bis morgen warten? Ich will nicht bei deinem ausgefallenen Essen mit Kotzeimer stören.“

„Besser morgen“, riet er.

„Okay. Grüß Ma von mir. Ich hab dich lieb.“

„Ich hab dich auch lieb“, sagte er und legte auf.

Jessie versuchte, sich auf die StraГџe zu konzentrieren. Der Verkehr wurde immer dichter und die Fahrt zur NRD-Anlage, die etwa 45 Minuten dauerte, wГјrde sich noch eine halbe Stunde hinziehen.

NRD, kurz für Nicht-Rehabilitative Division, war eine spezielle eigenständige Einheit, die mit dem Department State Hospital-Metropolitan in Norwalk verbunden war. Im Hauptkrankenhaus befand sich eine Vielzahl von psychisch kranken Tätern, die sich für ein herkömmliches Gefängnis nicht eigneten.

Aber es gab den geheimen Anhang der NRD, der der Öffentlichkeit und sogar den meisten Strafverfolgungs- und psychiatrischen Mitarbeitern unbekannt war. Es wurde entwickelt, um maximal zehn Schwerverbrecher unterzubringen. Im Moment wurden dort nur fünf Personen festgehalten, alle Männer, alle Serienvergewaltiger oder Mörder. Einer von ihnen war Bolton Crutchfield.

Jessies Gedanken drifteten ab zu dem letzten Treffen mit Bolton Crutchfield. Es war ihr letzter Besuch, bevor sie zur Nationalen Akademie ging, obwohl sie ihm das nicht gesagt hatte. Jessie hatte Crutchfield seit letztem Herbst regelmäßig besucht, als sie die Erlaubnis erhalten hatte, ihn im Rahmen des Masterpraktikums zu interviewen. Nach Angaben der dortigen Mitarbeiter hatte er fast nie zugestimmt, mit Ärzten oder Forschern zu sprechen. Aber aus Gründen, die ihr erst später klar wurden, hatte er zugestimmt, sich mit ihr zu treffen.

In den darauf folgenden Wochen ließen sie sich zu einer Art Vereinbarung ein. Er würde ihr die Einzelheiten seiner Verbrechen, einschließlich der Methoden und Motive, offenbaren, wenn sie einige Details ihres eigenen Lebens preisgeben würde. Es schien zunächst wie ein fairer Tausch zu sein. Schließlich war es ihr Ziel, eine Kriminalprofilerin zu werden, die sich auf Serienmörder spezialisiert. Einen zu haben, der bereit ist, die Details von seinen Taten preiszugeben, könnte sich als unbezahlbar erweisen.

Und es stellte sich heraus, dass es einen zusätzlichen Bonus gab. Crutchfield hatte die Fähigkeit von Sherlock Holmes, Informationen abzuleiten, selbst wenn er in einer Zelle einer Psychiatrie eingeschlossen war. Beim bloßen Betrachten von Jessie konnte er Details über ihr Leben erkennen.

Er hatte diese Fähigkeit, ihr zusammen mit von ihr preisgegebenen Eckdaten Hinweise zu mehreren Verbrechen zu geben, einschließlich der Ermordung einer wohlhabenden Frau aus dem Hancock Park. Er hatte sie auch darauf hingewiesen, dass ihr eigener Mann vielleicht nicht so vertrauenswürdig ist, wie er zu sein schien.

Unglücklicherweise gingen seine Fähigkeiten bei der Schlussfolgerung auch gegen Jessie selbst. Der Grund, warum sie sich überhaupt mit Crutchfield treffen wollte, war, weil sie bemerkt hatte, dass er seine Morde von denen ihres Vaters, des legendären, nie gefassten Serienmörders Xander Thurman, kopiert hatte. Aber Thurman hatte seine Verbrechen im ländlichen Missouri vor über zwei Jahrzehnten begangen. Es schien eine zufällige, obskure Wahl für einen in Südkalifornien ansässigen Mörder zu sein.

Aber es stellte sich heraus, dass Bolton ein großer Fan von ihrem Vater war. Und als Jessie anfing, ihn nach seinem Interesse an diesen alten Morden zu fragen, dauerte es nicht lange, bis er herausfand, dass die junge Frau vor ihm persönlich mit Thurman verbunden war. Schließlich gab er zu, dass er wusste, dass sie seine Tochter war. Und er enthüllte noch ein weiteres Geheimnis – er hatte zwei Jahre zuvor ihren Vater getroffen.

Mit Freude in seiner Stimme hatte er ihr mitgeteilt, dass ihr Vater unter dem Deckmantel eines Arztes die Einrichtung betreten und es geschafft hatte, ein längeres Gespräch mit dem Gefangenen zu führen. Anscheinend suchte er nach seiner Tochter, deren Name geändert worden war und die in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden war, nachdem er ihre Mutter getötet hatte. Er vermutete, dass sie eines Tages Crutchfield besuchen würde, weil ihre Verbrechen so ähnlich waren. Thurman wollte von Crutchfield wissen, ob sie jemals aufgetaucht war und verlangte ihren Namen sowie ihren Aufenthaltsort von ihm.

Von diesem Moment an bestand in ihrer Beziehung ein Ungleichheit, was sie unglaublich unwohl fГјhlen lieГџ. Crutchfield gab ihr weiterhin Informationen Гјber seine Verbrechen und Hinweise auf andere. Aber sie wussten beide, dass er alle Karten in der Hand hielt.

Er kannte ihren neuen Namen. Er wusste, wie sie aussah. Er kannte die Stadt, in der sie lebte. Irgendwann bemerkte sie, dass er sogar wusste, dass sie bei ihrer Freundin Lacy gewohnt hatte und wo das war. Und offenbar hatte er, obwohl er in einer angeblich geheimen Einrichtung eingesperrt war, die Fähigkeit, ihrem Vater all diese Details zu übermitteln.

Jessie war sich ziemlich sicher, dass das zumindest ein Teil des Grundes war, warum Lacy, eine aufstrebende Modedesignerin, einen halbjährigen Vertrag in Mailand angenommen hatte. Es war eine große Chance, aber es war sehr weit entfernt von Jessies gefährlichem Leben.

Als Jessie nur wenige Minuten vor dem Erreichen der NRD von der Autobahn fuhr, erinnerte sie sich daran, wie Crutchfield schließlich die unausgesprochene Bedrohung geäußert hatte, die immer wie eine Wolke über ihren Gesprächen hing.

Vielleicht lag es daran, dass er spürte, dass sie für mehrere Monate weggehen würde. Vielleicht war es nur aus Boshaftigkeit. Aber als sie das letzte Mal durch das Glas in seine hinterhältigen Augen geblickt hatte, hatte er eine Bombe fallen lassen.

„Ich werde ein kurzes Gespräch mit deinem Vater führen“, hatte er ihr in seinem höfischen südlichen Akzent gesagt. „Ich werde dir noch nicht verraten wann. Aber es wird schön werden, da bin ich mir ganz sicher.“

Sie hatte es kaum geschafft, das Wort “Wie?“ herauszubekommen.

„Oh, machen Sie sich darüber keine Sorgen, Fräulein Jessie“, hatte er beruhigend gesagt. „Aber Sie können sich sicher sein, dass ich ihm Ihre Grüße bestelle, wenn wir uns unterhalten.“

Als sie auf das Gelände des Krankenhauses fuhr, stellte sie sich die gleiche Frage, die seitdem an ihr nagte. Die Frage, die sie nur aus ihren Gedanken verdrängen konnte, wenn sie sich intensiv auf ihre Arbeit konzentrierte: Hatte er das wirklich getan? Hatten sich die beiden trotz aller Sicherheitsvorkehrungen, die explizit dafür entwickelt wurden, um genau so etwas zu vermeiden, wirklich ein zweites Mal getroffen, während sie lernte, wie man Leute wie ihn und ihren Vater erwischt?

Sie hatte das GefГјhl, dass das Geheimnis bald gelГјftet werden wГјrde.




Kapitel fГјnf


Das Betreten der NRD-Einheit war genau so, wie sie sich erinnerte. Nachdem sie die Erlaubnis erhalten hatte, den eingezäunten Krankenhauscampus durch ein Wachtor zu befahren, fuhr sie hinter das Hauptgebäude zu einem zweiten, kleineren, unscheinbaren Gebäude.

Es handelte sich um ein einstöckiges Gebäude aus Leichtbeton und Stahl in der Mitte eines unbefestigten Parkplatzes. Nur das Dach war hinter einem großen, grünmaschigen Stacheldrahtzaun sichtbar, der das ganze Grundstück umgab.

Sie fuhr durch ein zweites Tor, um Zugang zur NRD zu erhalten. Nachdem sie geparkt hatte ging sie zum Haupteingang und ignorierte die unzähligen Überwachungskameras, die ihr auf jedem Schritt folgten. Als sie an der Außentür ankam, wartete sie darauf, dass sie hineingelassen wird. Im Gegensatz zu ihrem ersten Besuch, wurde sie nun vom Personal erkannt und ihr wurde auf Anhieb Zutritt gewährt.

Aber das galt nur fГјr die AuГџentГјr. Nachdem sie einen kleinen Innenhof passiert hatte, erreichte sie den Haupteingang der Anlage mit dicken, kugelsicheren GlastГјren. Sie scannte ihre Karte, wodurch das Panel-Licht grГјn wurde. Dann Г¶ffnete ihr der Sicherheitsbeamte hinter dem Schreibtisch im Inneren, der auch den Farbwechsel sehen konnte, die TГјr und beendete so den Eintrittsprozess.

Jessie stand in einem kleinen Vorraum und wartete darauf, dass sich die Außentür schloss. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass die innere Tür erst geöffnet werden konnte, sobald sich die äußere vollständig geschlossen hatte. Sobald sie hörbar verriegelt war, öffnete der Wachmann die Innentür.

Jessie trat ein, dort wartete ein zweiter bewaffneter Offizier auf sie. Er nahm ihr ihre persönlichen Gegenstände ab, allerdings hatte sie nicht wirklich viel dabei. Sie hatte im Laufe der Zeit gelernt, dass es besser ist, fast alles im Auto zu lassen, schließlich bestand keine Einbruchgefahr.

Die Wache tastete sie ab und deutete ihr dann an, durch den Scanner im Sicherheitsstil eines Flughafens zu gehen, der ihren gesamten Körper scannte. Nachdem sie den Scanner passiert hatte, wurden ihr ihre Gegenstände wortlos zurückgegeben. Es war der einzige Hinweis darauf, dass sie nun weitergehen konnte.

„Werde ich Offizier Gentry sehen?“ fragte sie den Officer hinter dem Schreibtisch.

Die Frau blickte zu ihr auf, in ihrem Gesicht war ein Ausdruck völliger Desinteresse zu sehen. „Sie wird gleich hier sein. Warten Sie einfach an der Tür zum Übergangsbereich auf sie.“

Jessie tat, was ihr befohlen wurde. Der Übergangsbereich war der Raum, in dem sich alle Besucher umziehen mussten, bevor sie mit einem Patienten interagierten. Sobald sie sich in dem Raum befanden, mussten sie sich graue Krankenhaus-ähnliche Kittel anziehen, jeglichen Schmuck entfernen und sich abschminken. Sie wurde gewarnt, schließlich bräuchten diese Männer keine zusätzliche Stimulation.

Einen Moment später kam Offizier Katherine «Kat» Gentry durch die Tür, um sie zu begrüßen. Sie war eine Augenweide. Obwohl sie bei ihrem ersten Treffen im vergangenen Sommer nicht gerade einen guten Start hatten, waren die beiden Frauen jetzt Freundinnen, verbunden durch ein gemeinsames Bewusstsein für die Dunkelheit in einigen Menschen. Jessie vertraute ihr mittlerweile so sehr, dass Kat eine von weniger als fünf Menschen auf der Welt war, die wussten, dass sie die Tochter des Henkers der Ozarks war.

Als Kat auf sie zuging, bemerkte Jessie erneut, welch respektvolle Sicherheitschefin der NRD sie doch war. Sie war körperlich imposant und obwohl sie 1,70 Meter groß war, bestand ihr 70 Kilo schwerer Körper fast ausschließlich aus Muskeln. Sie war eine ehemalige Soldatin, die zwei Einsätze in Afghanistan hatte, die Überreste jener Tage waren in ihrem Gesicht sichtbar, das von Verbrennungen geprägt war und eine lange Narbe aufwies, die direkt unter ihrem linken Auge begann und senkrecht über ihre Wange verlief. Ihre grauen Augen nahmen alles, was sie sahen, gründlich auf, um festzustellen, ob irgend etwas eine Bedrohung darstellte.

Sie hielt Jessie offensichtlich nicht für eine Bedrohung. Sie fing an zu grinsen und umarmte sie kräftig.

„Lange nicht gesehen, FBI–Lady“, sagte sie begeistert.

Jessie schnappte während der engen Umarmung nach Luft und sprach erst, als sie ausgelassen worden war.

„Ich bin nicht beim FBI“, erinnerte sie Kat. „Es war nur ein Trainingsprogramm. Ich bin immer noch beim LAPD.“

„Wie auch immer“, sagte Kat abweisend. „Du warst in Quantico, hast mit den Behörden in deinem Bereich zusammengearbeitet und ausgefallene FBI-Techniken gelernt. Wenn ich dich eine FBI–Lady nennen will, dann tue ich das.“

„Wenn du mir nicht meine Wirbelsäule brichst, kannst du mich nennen, wie du willst.“

„Apropos, ich glaube nicht, dass ich das noch schaffen würde“, bemerkte Kat. „Du scheinst stärker zu sein als zuvor. Ich schätze, sie haben nicht nur dein Gehirn trainiert, während du da warst.“

„Sechs Tage die Woche“, sagte Jessie. „Lange Rennen, Hindernisparcours, Selbstverteidigung und Waffenübung. Sie haben meinen Hintern definitiv in eine halbwegs anständige Form gebracht.“

„Sollte ich mir Sorgen machen?“ fragte Kat mit vorgetäuschter Sorge, trat zurück und hob ihre Arme in eine defensive Haltung.

„Ich glaube nicht, dass ich eine Bedrohung für dich bin“, gab Jessie zu. „Aber ich habe das Gefühl, dass ich mich vor einem Verdächtigen schützen könnte, was vorher definitiv nicht der Fall war. Rückblickend hatte ich wirklich Glück, einige meiner letzten Begegnungen überlebt zu haben.“

„Das ist fantastisch, Jessie“, sagte Kat. „Vielleicht sollten wir uns irgendwann mal für ein paar Runden treffen, nur um dich fit zu halten.“

„Wenn du mit ein paar Runden ein paar Runden trinken meinst, bin ich dabei. Ansonsten mache ich vielleicht eine kleine Pause vom täglichen Laufen und so.“

„Ich nehme alles zurück“, sagte Kat. „Du bist immer noch dasselbe Weichei, das du immer schon warst.“

„Das ist die Kat Gentry, die ich kennen und lieben gelernt habe. Ich wusste, dass es einen Grund gab, warum du die erste Person warst, die ich sehen wollte, wenn ich wieder in der Stadt bin.“

„Ich fühle mich geschmeichelt“, sagte Kat. „Aber ich glaube, wir beide wissen, dass ich nicht die Person bin, die du hier wirklich sehen willst. Sollen wir aufhören zu quatschen und reingehen?“

Jessie nickte und folgte Kat in den Übergangsbereich, wo die Sterilität und Stille die angenehme Stimmung des Besuchs beendete.


* * *

Fünfzehn Minuten später führte Kat Jessie zu der Tür, die den NRD-Sicherheitsbereich öffnete und damit die Tür zu einigen der gefährlichsten Menschen auf dem Planeten. Sie waren bereits in ihr Büro gegangen, um eine Nachbesprechung über die letzten Monate zu machen, die überraschend ereignislos verlaufen waren.

Kat informierte sie darüber, dass, nachdem Crutchfield ein bevorstehendes Treffen mit ihrem Vater angedroht hatte, die ohnehin schon strengen Sicherheitsvorkehrungen noch weiter erhöht worden waren. Die Einrichtung hatte zusätzliche Sicherheitskameras und eine noch bessere Identitätsprüfung für die Besucher installiert.

Es gab keine Beweise dafür, dass Xander Thurman versucht hatte, Crutchfield zu besuchen. Seine einzigen Gäste waren der Arzt, der jeden Monat kam, um seine Vitalwerte zu überprüfen, der Psychiater, mit dem er fast nie sprach, ein Detektiv des LAPD, der hoffte, Crutchfield würde ihm Informationen zu einem ungelösten Fall liefern und sein vom Gericht ernannter Anwalt, der nur auftauchte, um sicherzustellen, dass er nicht gefoltert wurde. Er hatte sich kaum mit einem von ihnen beschäftigt.

Laut Kat hatte er Jessie gegenüber dem Personal nicht erwähnt, nicht einmal gegenüber Ernie Cortez, dem unkomplizierten Offizier, der seine wöchentlichen Duschen überwachte. Es war, als würde sie nicht existieren. Sie fragte sich, ob er sauer auf sie war.

„Ich weiß, dass du dich daran erinnerst“, sagte Kat, als sie an der Sicherheitstür standen. „Aber es ist schon ein paar Monate her, also lass uns die Sicherheitsvorschriften nochmals durchgehen. Nähere dich nicht dem Gefangenen. Berühre nicht die Glasbarriere. Ich weiß, dass das in deinem Falle hinfällig ist, aber offiziell darfst du keine persönlichen Informationen weitergeben. Verstanden?“

„Jep“, sagte Jessie und freute sich über die Erinnerungen. Es war hilfreich, um sie in die richtige Stimmung zu bringen.

Kat scannte ihre Karte und nickte der Kamera über der Tür zu. Jemand von drinnen öffnete ihnen die Tür. Jessie war sofort überwältigt von der überraschenden Flut an Sicherheitsmaßnahmen. Anstelle der üblichen vier Sicherheitskräfte standen dort sechs. Außerdem gingen drei Männer in Uniformen mit verschiedenen technischen Ausrüstungen auf und ab.

„Was ist hier los?“, fragte sie.

„Oh, ich habe vergessen zu erwähnen, dass wir zur Wochenmitte ein paar neue Bewohner bekommen. Alle zehn Zellen werden belegt sein. Also überprüfen wir die Überwachungseinrichtungen in den leeren Zellen, um sicherzustellen, dass alles funktioniert. Wir haben auch das Sicherheitspersonal in jeder Schicht von vier Offizieren auf sechs tagsüber und nachts von drei auf vier erhöht.“

„Das klingt… riskant“, sagte Jessie diplomatisch.

„Ich habe dagegen gekämpft“, gab Kat zu. „Aber das Land hatte Bedarf und wir hatten verfügbare Zellen. Es war ein aussichtsloser Kampf.“

Jessie nickte, als sie sich umsah. Die Umgebung schien die gleiche zu sein. Die Einheit war wie ein Rad mit einer Kommandozentrale in der Mitte und Speichen, die sich in alle Richtungen erstreckten und zu Insassenzellen fГјhrten, aufgebaut. Derzeit befanden sich sechs Offiziere in der engen Kommandozentrale, die wie eine Г¤uГџerst belebte Station eines Krankenhauses aussah.

Einige der Gesichter waren neu für sie, aber die meisten waren vertraut, einschließlich Ernie Cortez. Ernie war ein massives Exemplar eines Mannes, etwa zwei Meter groß und 125 Kilo Muskeln pur. Er war in den Dreißigern und fing gerade erst an, in seinem kurzen schwarzen Haar graue Strähnen zu bekommen. Er grinste sehr, als er Jessie sah.

„Mode-Tussi“, rief er ihr mit dem liebevollen Spitznamen zu, den er ihr bei ihrem ersten Treffen verpasst hatte. Damals hatte er versucht, sie anzugraben und ihr eingeredet, sie solle als Model arbeiten. Sie hatte ihm ziemlich schnell klargemacht, dass er nicht bei ihr landen konnte, aber er schien keinen Groll zu hegen.

„Wie geht es dir, Ernie?“ fragte sie und lächelte zurück.

„Du weißt schon, wie immer. Sicherstellen, dass Pädophile, Vergewaltiger und Mörder sich anständig benehmen. Was gibt’s bei dir Neues?“

„Eigentlich nichts Neues“, sagte sie und beschloss in Anwesenheit so vieler unbekannter Gesichter nicht auf ihre Unternehmungen in den letzten Monaten einzugehen.

„Jetzt, wo du ein paar Monate Zeit hattest, um über deine Scheidung hinwegzukommen, willst du ein wenig Zeit mit dem Ernst verbringen? Ich plane, dieses Wochenende nach Tijuana zu fahren.“

„Ernst“? wiederholte Jessie, unfähig, sich selbst vom Kichern abzuhalten.

„Was?“, sagte er defensiv. „Es ist ein Spitzname.“

„Es tut mir leid, Ernst, aber ich habe dieses Wochenende bereits etwas vor. Aber dir viel Spaß auf der Jai-Alai-Bahn.“

„Autsch“, antwortete er und packte seine Brust, als hätte sie einen Pfeil in sein Herz geschossen. „Weißt du, große Jungs haben auch Gefühle. Wir sind eben auch, du weißt schon… große Jungs.“

„In Ordnung, Cortez“, mischte Kat sich ein, „genug davon. Du hast mich eben dazu gebracht, innerlich zu kotzen. Und Jessie hat Geschäftliches zu tun.“

„Wie verletzend“, murmelte Ernie, als er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Monitor vor ihm richtete. Trotz seiner Worte deutete sein Ton darauf hin, dass er nicht allzu verletzt war. Kat bewegte sich, damit Jessie ihr zu dem Gespräch in Crutchfields Zelle folgen konnte.

„Das wirst du brauchen“, sagte sie und hielt den kleinen Schlüsselanhänger mit dem roten Knopf in der Mitte hoch. Es war der „Notfall“-Knopf. Jessie betrachtete es als eine Art digitale Sicherheitsdecke.

Wenn Crutchfield sich zu sehr in ihre Gedanken mischte und sie den Raum verlassen wollte, ohne ihn über seine Auswirkungen zu informieren, sollte sie den Knopf drücken, der in ihrer Hand versteckt war. Das würde Kat alarmieren, die sie aus irgendeinem offiziellen, erfundenen Grund aus dem Raum entfernen lassen könnte. Jessie war sich ziemlich sicher, dass Crutchfield das Gerät kannte, aber sie war froh, es trotzdem zu haben.

Sie packte den Schlüsselanhänger, nickte Kat zu, dass sie bereit war, einzutreten, und atmete tief durch. Kat öffnete die Tür und Jessie trat ein.

Anscheinend hatte Crutchfield ihre Ankunft erwartet. Er stand auf und war nur wenige Zentimeter von der Glaswand entfernt, die den Raum in zwei Hälften teilte. Er lächelte sie breit an.




Kapitel sechs


Jessie brauchte eine Sekunde, um ihren Blick von seinen schiefen Zähnen abzuwenden und die Situation zu beurteilen.

Auf den ersten Blick sah er nicht anders aus, als sie sich erinnerte. Er hatte noch immer die kurz geschorenen blonden Haare. Er trug immer noch den gleichen obligatorischen blauen Kittel. Er hatte noch immer das etwas pummeligere Gesicht, das man von einem Mann erwartete, der etwa 1,72 Meter groß und 75 Kilo schwer war. Er sah eher aus wie 25 als 35, tatsächlich war er aber 35 Jahre alt.

Und er hatte immer noch die bohrenden, fast stechenden braunen Augen. Sie waren der einzige Hinweis darauf, dass der Mann gegenüber von ihr mindestens neunzehn Menschen oder vielleicht sogar doppelt so viele getötet hatte.

Auch die Zelle hatte sich nicht verändert. Sie war klein, mit einem schmalen, deckenlosen Bett, das an der hinteren Wand verschraubt war. Ein kleiner Schreibtisch mit einem daran befestigten Stuhl befand sich in der hinteren rechten Ecke neben einem kleinen Metallwaschbecken. Dahinter befand sich eine Toilette hinter einer Kunststoffschiebetür für ein wenig Privatsphäre.

„Fräulein Jessie“, schnurrte er leise. „Was für eine unerwartete Überraschung, dass ich Sie hier treffe.“

„Und doch stehen Sie da, als hätten Sie meine bevorstehende Ankunft erwartet“, antwortete Jessie und wollte Crutchfield nicht einmal einen Moment Vorsprung gewähren. Sie ging hinüber und setzte sich auf den Stuhl hinter einem kleinen Schreibtisch auf der anderen Seite der Glasfront. Kat nahm ihre übliche Position ein und stand wachsam in der Ecke des Raumes.

„Ich habe eine Veränderung in der Energie dieser Einrichtung verspürt“, antwortete er, sein Louisiana-Akzent war so stark wie eh und je. „Die Luft schien süßer zu sein und ich dachte, ich könnte einen Vogel draußen zwitschern hören.“

„Normalerweise sind Sie nicht so schmeichelnd aufgelegt“, bemerkte Jessie. „Möchten Sie mir mitteilen, warum Sie in einer so höflichen Stimmung sind?“

„Nichts Besonderes, Fräulein Jessie. Kann ein Mann nicht einfach die kleine Freude schätzen, die entsteht, wenn er einen unerwarteten Besuch erhält?“

Etwas in der Art und Weise, wie er den letzten Satz formuliert hatte, lieГџ Jessies Kopfhaut zum Kribbeln bringen, als ob hinter dem Kommentar mehr steckte. Sie saГџ einen Moment lang ruhig da und lieГџ ihre Gedanken arbeiten, unbekГјmmert der Zeitvorgaben. Sie wusste, dass Kat sie das Interview fГјhren lassen wГјrde, wie auch immer sie es wollte.

Als sie Crutchfields Worte in ihrem Kopf durchging, wurde ihr klar, dass sie mehr als eine Bedeutung haben könnten.

„Wenn Sie von einem unerwarteten Besuch sprechen, sprechen Sie von mir, Herr Crutchfield?“

Er starrte sie einige Sekunden lang an, ohne zu sprechen. Schließlich verwandelte sich das breite, erzwungene Lächeln auf seinem Gesicht langsam in ein bösartiges – und glaubhafteres – Grinsen.

„Wir haben die Grundregeln für diesen Besuch noch nicht festgelegt“, sagte er und drehte ihr plötzlich den Rücken zu.

„Ich glaube, die Zeiten der Grundregeln sind längst vorbei, nicht wahr, Herr Crutchfield?“, fragte sie. „Wir kennen uns schon so lange, dass wir einfach reden können, oder?“

Er ging zurГјck zu dem Bett, das an der RГјckwand der Zelle befestigt war, und setzte sich hin, sein Gesichtsausdruck war nun leicht im Schatten versteckt.

„Aber wie kann ich sicher sein, dass Sie so entgegenkommend sind, wie Sie es von mir erwarten?“, fragte er.

„Nachdem Sie einem Ihrer Lakaien befohlen haben, in die Wohnung meiner Freundin einzubrechen und sie so erschreckt haben, dass sie immer noch nicht schlafen kann, bin ich mir nicht sicher, ob Sie mein Vertrauen oder meine Bereitschaft, Ihnen entgegenzukommen, vollständig verdient haben.“

„Sie haben diesen Vorfall erwähnt“, sagte er, „aber Sie lassen die vielen Male, in denen ich Ihnen in beruflichen und persönlichen Angelegenheiten geholfen habe völlig außer Acht. Jede so genannte Indiskretion meinerseits habe ich mit Informationen kompensiert, die sich für Sie von unschätzbarem Wert erwiesen haben. Alles, worum ich bitte, sind Zusicherungen, dass dies keine Sackgasse sein wird.“

Jessie sah ihn genau an und versuchte herauszufinden, wie zuvorkommend sie sein konnte, während sie gleichzeitig einen professionellen Abstand hielt.

„Wonach suchen Sie genau?“

„Im Moment? Das ist genau Ihre Zeit, Fräulein Jessie. Ich würde es vorziehen, wenn Sie sich nicht so fremd fühlten. Es ist sechsundsiebzig Tage her, seit Sie mich das letzte Mal mit Ihrer Anwesenheit beehrt haben. Ein weniger selbstbewusster Mann als ich könnte angesichts der langen Abwesenheit beleidigt sein.“

„Okay“, sagte Jessie. „Ich verspreche, Sie regelmäßiger zu besuchen. Genauer gesagt werde ich sicherstellen, dass ich diese Woche mindestens noch einmal vorbeikomme. Wie klingt das?“

„Es ist ein Anfang“, antwortete er unverbindlich.

„Großartig. Dann lassen Sie uns auf meine Frage zurückkommen. Sie haben vorhin gesagt, dass Sie die Freude schätzen, die dadurch entsteht, dass Sie einen unerwarteten Besuch bekommen haben. Haben Sie sich auf mich bezogen?“

„Fräulein Jessie, es ist zwar immer eine Freude, in Ihrer Gesellschaft zu schwelgen, aber ich muss gestehen, dass mein Kommentar tatsächlich auf einen anderen Besucher verweist.“

Jessie konnte spГјren, wie Kat sich in der Ecke hinter ihr versteifte.

„Und auf wen beziehen Sie sich?“, fragte sie und hielt ihre Stimme ruhig.

„Ich glaube, das wissen Sie.“

„Ich möchte, dass Sie es mir sagen“, bestand Jessie darauf.

Bolton Crutchfield stand wieder auf und war jetzt im vollen Licht besser sichtbar, und Jessie konnte sehen, dass er seine Zunge in seinem Mund herumrollte, als wäre sie ein Fisch an einer Leine, mit dem er spielte.

„Wie ich Ihnen beim letzten Mal, als wir uns unterhielten, versichert habe, würde ich mich mit Ihrem Vater unterhalten.“

„Und das haben Sie?“

„Das habe ich in der Tat“, antwortete er so beiläufig, als würde er ihr die Zeit mitteilen. „Er bat mich, seine Grüße zu bestellen, nachdem ich Ihre überbracht hatte.“

Jessie starrte ihn genau an und suchte nach einem Hauch von Täuschung in seinem Gesicht.

„Sie haben mit Xander Thurman gesprochen“, bestätigte sie erneut, „in diesem Raum, irgendwann in den letzten elf Wochen?“

„Das habe ich.“

Jessie wusste, dass Kat unbedingt ihre eigenen Fragen hätte stellen wollen, um zu versuchen, die Wahrhaftigkeit seiner Behauptung zu bestätigen und wie es hatte passieren können. Aber in ihrem Kopf war das zweitrangig und konnte später angesprochen werden. Sie wollte nicht, dass das Gespräch abgelenkt wird, also fuhr sie fort, bevor ihre Freundin etwas sagen konnte.

„Was haben Sie besprochen?“, fragte sie und versuchte, das Urteil aus ihrer Stimme fernzuhalten.

„Nun, wir mussten ziemlich kryptisch sein, um seine wahre Identität den Zuhörern nicht preiszugeben. Aber im Grunde genommen ging es in unserem Gesprächs um Sie, Fräulein Jessie.“

„Um mich?“

„Ja. Wenn Sie sich erinnern, haben er und ich vor ein paar Jahren bereits geplaudert und er hatte mich gewarnt, dass Sie mich eines Tages besuchen könnten. Aber dass Sie einen anderen Namen haben als Jessica Thurman. Der Name, den er Ihnen gegeben hat.“

Jessie zuckte unwillkürlich vor dem Namen zurück, den sie seit zwei Jahrzehnten von niemandem mehr laut ausgesprochen gehört hatte, mit Ausnahme von sich selbst. Sie wusste, dass er ihre Reaktion bemerkte, aber sie konnte nichts dagegen tun. Crutchfield lächelte wissentlich und fuhr fort.

„Er wollte wissen, wie es seiner längst verlorenen Tochter geht. Er interessierte sich für alle möglichen Details – was Sie beruflich machen, wo Sie leben, wie Sie jetzt aussehen, wie Ihr neuer Name lautet. Er würde gerne wieder Kontakt mit Ihnen aufnehmen, Fräulein Jessie.“

Während er sprach, befahl sich Jessie, langsam ein- und auszuatmen. Sie erinnerte sich daran, ihren Körper zu öffnen und ihr Bestes zu geben, um ruhig auszusehen, auch wenn es nur eine Fassade war. Sie musste unbeirrt erscheinen, wenn sie ihre nächste Frage stellte.

„Haben Sie ihm irgendwelche dieser Details preisgegeben?“

„Nur eines“, sagte er schelmisch.

„Und was war das?“

„Zuhause ist, wo das Herz ist“, sagte er.

„Was zum Teufel soll das bedeuten?“, fragte sie, ihr Herz schlug plötzlich schnell.

„Ich habe ihm den Standort mitgeteilt, den Sie Ihr Zuhause nennen“, sagte er nüchtern.

„Sie haben ihm meine Adresse gegeben?“

„Ich war nicht so genau. Um ehrlich zu sein, kenne ich Ihre genaue Adresse gar nicht, und das trotz meiner Bemühungen, sie herauszufinden. Aber er weiß genug, damit er den Weg zu Ihnen finden kann, wenn er klug ist. Und wie wir beide wissen, Fräulein Jessie, ist Ihr Daddy sehr klug.“

Jessie schluckte kräftig und bekämpfte den Drang, ihn anzuschreien. Er beantwortete immer noch ihre Fragen und sie benötigte so viele Informationen wie möglich, bevor er aufhörte.

„Also, wie lange habe ich Zeit, bis er an meine Tür klopft?“

„Das hängt davon ab, wie lange es dauert, bis er die Puzzleteile zusammengesetzt hat“, sagte Crutchfield mit einem übertriebenen Achselzucken. „Wie gesagt, ich musste ein wenig kryptisch sein. Wenn ich zu konkret gewesen wäre, hätte das die Leute, die mich überwachen, in Alarmbereitschaft versetzt. Das wäre nicht produktiv gewesen.“

„Warum sagen Sie mir nicht genau, was Sie ihm gesagt haben? Auf diese Weise kann ich den wahrscheinlichen Zeitpunkt für mich selbst herausfinden.“

„Wo bleibt da der Spaß, Fräulein Jessie? Ich bin sehr angetan von Ihnen. Aber das erscheint mir als unangemessener Vorteil. Wir müssen dem Mann eine Chance geben.“

„Eine Chance?“ wiederholte Jessie ungläubig. „Wofür? Damit er einen Vorsprung hat und mich umbringen kann wie meine Mutter?“

„Das scheint nicht fair zu sein“, antwortete er und schien sich zu beruhigen, je aufgeregter Jessie wurde. „Das hätte er in dieser verschneiten Hütte vor all den Jahren tun können. Aber das hat er nicht. Warum also annehmen, dass er Sie jetzt verletzen will? Vielleicht will er nur einen Tagesausflug ins Disneyland mit seinem kleinen Mädchen machen.“

„Sie müssen mir verzeihen, wenn ich nicht so geneigt bin, ihm den Vorteil des Zweifels zu geben“, fauchte sie. „Das ist kein Spiel, Bolton. Sie wollen, dass ich Sie wieder besuche? Ich muss am Leben sein, um das tun zu können. Ich werde nicht mehr sehr gesprächig sein, sobald Ihr Mentor Ihr Lieblingsmädchen zerstückelt hat.“

„Zwei Dinge, Fräulein Jessie: Erstens verstehe ich, dass dies eine verstörende Nachricht ist, aber ich würde es vorziehen, wenn Sie nicht so einen vertrauten Ton mit mir annehmen würden. Mich mit meinem Vornamen anzusprechen? Das ist nicht nur unprofessionell, es ist unhöflich von Ihnen.“

Jessie seufzte leise. Noch bevor er ihr die zweite Sache sagte, wusste sie, dass er ihr nicht sagen würde, was sie wollte. Dennoch blieb sie still und biss sich buchstäblich auf die Zunge, falls er einen Sinneswandel erleiden würde.

„Und zweitens“, fuhr er fort und genoss es deutlich, ihr zuzusehen, wie sie sich wand, „während ich Ihre Gesellschaft durchaus genieße, nehmen Sie bitte nicht an, dass Sie mein Lieblingsmädchen sind. Vergessen wir nicht die wachsame Kat Gentry hinter Ihnen. Sie ist ein echter Pfirsich – ein verrottender, ranziger Pfirsich. Wie ich ihr mehr als einmal gesagt habe, beabsichtige ich, wenn ich diese Zelle verlasse, ihr einen besonderen Abschied darzubieten, wenn Sie verstehen was ich meine. Also bitte sehen Sie sich nicht als mein Lieblingsmädchen.“

„Ich…“ fing Jessie an, in der Hoffnung, seine Meinung zu ändern.

„Unsere Zeit ist leider abgelaufen“, sagte er knapp. Damit drehte er sich um und ging zu der winzigen Nische der Zelle mit der Toilette darin, zog die Plastiktür zu und beendete so das Gespräch.




Kapitel sieben


Jessie hielt Ausschau und war auf der Suche nach jemandem oder etwas Ungewöhnlichem.

Als sie zu ihrer Wohnung zurückkehrte und den gleichen beschwerlichen Weg wie zuvor am Tag zurücklegte, schienen all die Sicherheitsvorkehrungen, auf die sie nur wenige Stunden zuvor so stolz gewesen war, nun völlig unzureichend.

Diesmal band sie ihr Haar zu einem Dutt zusammen und versteckte es unter einer Baseballmütze und der Kapuze eines Sweatshirts, das sie auf dem Rückweg von Norwalk gekauft hatte. Ihre kleine Rucksacktasche hatte sie vorne so befestigt, dass sie ihre Brust umarmte. Trotz der zusätzlichen Anonymität, die ihr eine Sonnenbrille gewähren könnte, trug sie keine, weil sie Bedenken hatte, dass sie ihre Sicht einschränken würde.

Kat hatte versprochen, die Bänder der letzten Besuche von Crutchfield zu überprüfen, um zu sehen, ob sie etwas übersehen hatten. Sie bot Jessie ebenfalls an, sie nach ihrer Arbeit nach DTLA zu begleiten, um ihre sichere Ankunft zu gewährleisten, und das, obwohl sie im entfernten Industriegebiet wohnte. Jessie lehnte das Angebot höflich ab.

„Ich kann nicht davon ausgehen, dass ich von nun an überall, wo ich hingehe, eine bewaffnete Eskorte dabei habe“, sagte sie.

„Warum nicht?“ fragte Kat nur halb scherzhaft.

Jetzt, da sie den Flur zu ihrer Wohnung entlang ging, fragte sie sich, ob sie das Angebot ihrer Freundin hätte annehmen sollen. Sie fühlte sich jetzt, mit den Einkaufstüten, besonders verletzlich. Der Flur war mucksmäuschenstill und sie hatte seit dem Betreten des Gebäudes niemanden mehr gesehen. Plötzlich machte sich eine verrückte Vorstellung in ihrem Kopf breit: Ihr Vater hatte alle in ihrem Stockwerk getötet, damit er mit keinen Komplikationen rechnen musste, wenn er sich ihr näherte.

Das Licht um ihren Spion war grün, was ihr eine gewisse Sicherheit gab, als sie die Tür öffnete und zur Sicherheit nochmal in beide Richtungen schaute, für den Fall, dass jemand überraschend auftauchte. Niemand war da. Sobald sie drinnen war, schaltete sie die Lichter an und drehte dann alle Schlösser um, bevor sie beide Alarme entschärfte. Unmittelbar danach stellte sie den Alarm auf “Home“-Modus, so dass sie sich in der Wohnung bewegen konnte, ohne die Bewegungssensoren zu aktivieren.

Sie legte die Einkaufstaschen auf die Küchenzeile und durchsuchte ihre Wohnung – mit einem Schlagstock in der Hand. Sie hatte vor ihrer Abreise nach Quantico erfolgreich eine Waffengenehmigung beantragt und sollte morgen in der Arbeit ihre Waffe bekommen. Ein Teil von ihr wünschte sich, sie hätte sie bereits abgeholt, als sie am Morgen ihre Post geholt hatte. Als sie sich endlich sicher war, dass die Wohnung sauber war, begann sie, die Lebensmittel wegzuräumen und ließ das Sushi auf der Theke stehen, die sie anstelle von Pizza fürs Abendessen gekauft hatte.

Nichts geht Гјber Supermarkt-Sushi am Montagabend, um sich als Single-Frau in der GroГџstadt besonders zu fГјhlen.

Der Gedanke ließ sie kurz vor sich hin schmunzeln, bevor sie sich daran erinnerte, dass ihrem Serienmördervater ein Wegweiser zu ihrem Wohnort gegeben worden war. Vielleicht war es keine vollständige Wegbeschreibung. Aber nach dem, was Crutchfield gesagt hatte, reichte es aus, dass er sie schließlich irgendwann finden könnte. Die große Frage war: Wann war “irgendwann“?


* * *

Neunzig Minuten später schlug Jessie auf einen Sandsack ein und Schweiß tropfte von ihrem Körper. Nachdem sie ihr Sushi gegessen hatte, hatte sie sich unruhig und eingesperrt gefühlt und beschlossen, ihre Frustrationen im Fitnessstudio konstruktiv loszuwerden.

Sie war noch nie ein großer Trainingsfanatiker gewesen. Aber während ihres Aufenthalts bei der Nationalen Akademie machte sie eine unerwartete Entdeckung. Wenn sie bis zur Erschöpfung trainierte, war in ihr kein Platz mehr für die Angst und den Schrecken, die sie den Rest der Zeit so sehr in Anspruch nahmen. Wenn sie das nur vor einem Jahrzehnt gewusst hätte, hätte sie sich Tausende von schlaflosen Nächten ersparen können, selbst die Nächte voller endloser Alpträume.

Es hätte ihr auch ein paar Sitzungen mit ihrer Therapeutin, Dr. Janice Lemmon, einer renommierten forensischen Psychologin, ersparen können. Dr. Lemmon war einer der wenigen Menschen, die jedes Detail über Jessies Vergangenheit wussten. Sie war in den letzten Jahren eine unbezahlbare Stützte gewesen.

Aber sie war derzeit in Genesung von einer Nierentransplantation und stand noch für ein paar weitere Wochen nicht für Sitzungen zur Verfügung. Jessie war versucht zu denken, dass sie ganz auf die Besuche verzichten könnte. Aber während es zwar preiswerter sein würde, nur eine Therapie im Fitnessstudio zu machen, wusste sie, dass es sicher Momente geben würde, in denen sie die Ärztin aufsuchen musste.

Als sie eine Reihe von Klimmzügen machte, erinnerte sie sich daran, wie sie vor ihrer Reise nach Quantico oft schweißgebadet aufwachte, schwer atmete und versuchte, sich daran zu erinnern, dass sie in Los Angeles sicher war und sich nicht in einer kleinen Hütte in den Missouri Ozarks, an einen Stuhl gefesselt, befand und beobachtete, wie Blut von dem langsam erstarrenden Körper ihrer toten Mutter tropfte.

Wenn das nur auch lediglich ein Traum gewesen wäre. Aber es war alles echt. Als sie sechs Jahre alt war und die Ehe ihrer Eltern in die Brüche ging, hatte ihr Vater sie und ihre Mutter in seine abgelegene Hütte gebracht. Dort enthüllte er, dass er seit Jahren Menschen entführt, gefoltert und getötet hatte. Und dann tat er dasselbe mit seiner eigenen Frau, Carrie Thurman.

Jessie – damals noch Jessica Thurman – musste zusehen, wie er ihre Hände an den Deckenbalken der Hütte festband und mit einem Messer auf sie einstach. Er fesselte sie an einem Stuhl und klebte ihre Augenlider auf, als er ihre Mutter aufschlitzte und sie schließlich tötete.

Dann benutzte er das gleiche Messer, um eine große Wunde auf dem Schlüsselbein seiner eigenen Tochter von ihrer linken Schulter bis hin zu ihrem Hals zurückzulassen. Danach verließ er einfach die Hütte. Erst drei Tage später wurde sie völlig unterkühlt und unter Schock von zwei Jägern entdeckt, die zufällig vorbeikamen.

Nachdem sie sich erholt hatte, erzählte sie der Polizei und dem FBI die Geschichte. Aber bis dahin war ihr Vater schon lange verschwunden und damit auch jede Hoffnung, dass er geschnappt werden könnte. Jessica wurde bei den Hunts in Las Cruces unter Zeugenschutz gestellt. Jessica Thurman wurde zu Jessie Hunt und ein neues Leben begann.

Jessie verdrängte die Erinnerungen aus ihrem Kopf und wechselte von Klimmzügen zu Knietritten, die für die Leiste eines Angreifers bestimmt waren. Sie unterdrückte die Schmerzen in ihrem Bauch, als sie nach vorne trat. Mit jedem Schlag verblasste das Bild der blassen, leblosen Haut ihrer Mutter.

Dann tauchte eine weitere Erinnerung in ihrem Kopf auf, die ihres ehemaligen Ehemanns Kyle, der sie in ihrem eigenen Haus angegriffen und versucht hatte, sie zu töten und ihr den Mord an seiner Geliebten anzuhängen. Sie konnte fast den Stoß des Kaminschürhakens spüren, den er in die linke Seite ihres Bauches gerammt hatte.

Der körperliche Schmerz dieses Moments wurde nur durch die Erniedrigung noch verstärkt, dass sie ein Jahrzehnt lang mit einem Soziopathen zusammen gewesen war und es nie bemerkt hatte. Schließlich sollte sie eine Expertin darin sein, diese Art von Menschen zu identifizieren.

Jessie machte weiter und hoffte, die Scham mit einer Reihe von Ellbogenschlägen auf den Sandsack loszuwerden. Ihre Schultern begannen, sie unzufrieden anzuschreien, aber sie schlug weiterhin auf den Sack ein, in dem Wissen, dass ihr Verstand bald zu müde sein würde, um verzweifelt zu sein.

Das war der Teil von ihr, von dem sie nicht erwartet hatte, ihn beim FBI zu entdecken – der körperlich knallharte Arsch. Trotz der üblichen Besorgnis, die sie bei ihrer Ankunft verspürte, hatte sie vermutet, dass sie auf der akademischen Seite gut abschneiden würde. Sie hatte gerade die letzten drei Jahre in diesem Umfeld, in der Kriminalpsychologie, verbracht.

Und sie hatte Recht. Die Kurse in Recht, Forensik und Terrorismus waren einfach gewesen. Sogar das Seminar zur Verhaltensforschung, bei dem die Instruktoren ihre Vorbilder waren, und sie dachte, sie wäre nervös, war einfach. Aber es waren die Kurse für körperliche Fitness und vor allem das Selbstverteidigungstraining, in denen sie sich selbst am meisten überrascht hatte.

Ihre Ausbilder hatten ihr gezeigt, dass sie mit 1,77 und 70 Kilo die physische Größe hatte, um es mit den meisten Tätern aufzunehmen, wenn sie richtig vorbereitet war. Sie würde wahrscheinlich nie die Nahkampffähigkeiten eines ehemaligen Spezialeinheiten-Veteranen wie Kat Gentry beherrschen. Aber sie verließ das Programm zuversichtlich, dass sie sich wohl in den meisten Situationen verteidigen könnte.

Jessie zog die Handschuhe aus und ging zum Laufband. Als sie auf die Uhr blickte, sah sie, dass es kurz vor 20 Uhr war. Sie entschied, dass ein solider Zehn-Kilometer-Lauf sie genügend erledigen sollte, dass sie heute Nacht alptraumfrei schlafen könnte. Das war eine Priorität, da sie morgen wieder zu arbeiten begann. Sie wusste, dass alle ihre Kollegen von ihr erwarten würden, dass sie jetzt eine Art FBI-Superheldin ist.

Sie stellte den Timer auf vierzig Minuten ein und übte Druck auf sich selbst aus, um die zehn Kilometer in einem Tempo von vier Minuten pro Kilometer zu absolvieren. Dann stellte sie die Lautstärke an ihren Kopfhörern hoch. Als die ersten Sekunden von Seals «Killer» zu spielen begannen, verschwanden ihre Gedanken und sie konzentrierte sich nur auf die Aufgabe vor ihr. Sie nahm den Titel des Songs und die persönlichen Erinnerungen, die er hervorrufen könnte, überhaupt nicht mehr wahr. Sie spürte nur den Beat und ihre Beine machten in Harmonie mit. Sie verspürte Frieden.




Kapitel acht


Eliza Longworth eilte so schnell wie möglich zu Pennys Haustür. Es war fast 8 Uhr morgens, die Zeit, zu der normalerweise ihre Yogalehrerin auftauchte.

Es war eine weitgehend schlaflose Nacht gewesen. Erst im Morgengrauen hatte sie das GefГјhl, den Weg zu kennen, den sie gehen musste. Als die Entscheidung getroffen war, fГјhlte Eliza, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel.

Sie schrieb Penny eine SMS, um ihr zu sagen, dass die lange Nacht ihr Zeit zum Nachdenken gegeben hatte, und um darüber nachzudenken, ob das Beenden ihrer Freundschaft vielleicht zu voreilig gewesen war. Sie sollten die Yogastunde machen. Und dann, nachdem ihre Lehrerin Beth gegangen war, könnten sie versuchen, einen Weg zu finden, mit dem Vorfall umzugehen.

Penny hatte nicht geantwortet, aber das hielt Eliza nicht davon ab, trotzdem zu ihr zu fahren. Gerade als sie die HaustГјr erreichte, sah sie Beth die kurvenreiche StraГџe hinauffahren und winkte ihr zu.

„Penny!“ schrie sie, als sie an die Tür klopfte. „Beth ist hier. Steht Yoga noch?“

Es kam keine Antwort, also drГјckte sie die Klingel und winkte mit den Armen vor der Kamera.

„Penny, kann ich reinkommen? Wir sollten kurz reden, bevor Beth kommt.“

Es kam immer noch keine Antwort und Beth war nur noch etwa hundert Meter entfernt, also beschloss sie, einfach hineinzugehen. Sie wusste, wo der SchlГјssel versteckt war, versuchte es aber trotzdem an der TГјr. Sie war offen. Sie trat ein und lieГџ die TГјr fГјr Beth offen.

„Penny“, rief sie. „Die Tür war offen. Beth kommt gerade. Hast du meine Nachricht bekommen? Können wir eine Minute unter vier Augen reden, bevor wir anfangen?“

Sie ging ins Foyer und wartete. Es kam immer noch keine Antwort. Sie ging ins Wohnzimmer, wo sie normalerweise die Yogastunden hatten. Es war auch leer. Sie wollte gerade in die KГјche gehen, als Beth hereinkam.

„Meine Damen, ich bin hier!“ rief sie von der Haustür aus.

„Hey, Beth“, sagte Eliza und drehte sich um, um sie zu begrüßen. „Die Tür war offen, aber Penny antwortet nicht. Ich weiß nicht, was los ist. Vielleicht hat sie verschlafen oder ist im Badezimmer oder so. Ich kann oben nachsehen. Nimm dir einfach schonmal etwas zu trinken. Ich bin sicher, dass sie gleich soweit ist.“

„Kein Problem“, sagte Beth. „Mein halb zehn Kunde hat abgesagt, also habe ich es nicht eilig. Sag ihr, sie soll sich Zeit lassen.“

„Okay“, sagte Eliza, als sie die Treppe hochging. „Gib uns nur eine Minute.“

Sie war etwa auf halbem Weg die erste Treppe hinauf, als sie sich fragte, ob sie vielleicht den Aufzug hätte nehmen sollen. Das Schlafzimmer befand sich im dritten Stock und sie war von dem Aufstieg nicht gerade begeistert. Bevor sie sich ernsthaft Gedanken darüber machen konnte, hörte sie einen Schrei von unten.

„Was ist los?“ schrie sie, als sie sich umdrehte und wieder nach unten eilte.

„Beeil dich!“ schrie Beth. „Lieber Gott, beeil dich!“

Ihre Stimme kam aus der KГјche. Eliza begann zu laufen, als sie am Ende der Treppe ankam. Sie durchquerte das Wohnzimmer und bog um die Ecke.

Penny lag in einer riesigen Blutlache auf dem gefliesten Küchenboden. Ihre Augen waren offen, ihr Körper steif und verkrampft.

Eliza eilte zu ihrer ältesten, liebsten Freundin hinüber und rutschte auf der Flüssigkeit aus, als sie sich näherte. Sie landete mit dem ganzen Körper auf dem Boden, das Blut spritzte.

Sie versuchte, nicht zu würgen, kroch hinüber und legte ihre Hände auf Pennys Brust. Selbst mit angezogener Kleidung war sie kalt. Trotzdem schüttelte Eliza sie, als ob sie das aufwecken könnte.

„Penny“, bettelte sie, “wach auf.“

Ihre Freundin antwortete nicht. Eliza sah zu Beth auf.

„Weißt du, wie man wiederbelebt?“, fragte sie.

„Nein“, sagte die jüngere Frau mit zitternder Stimme und schüttelte den Kopf. „Aber ich denke, es ist zu spät.“

Eliza ignorierte den Kommentar und versuchte, sich an den Erste Hilfe-Kurs zu erinnern, den sie vor Jahren belegt hatte. Er war für Kinder, aber es sollten die gleichen Grundsätze gelten. Sie öffnete Pennys Mund, neigte ihren Kopf nach hinten, drückte ihre Nase und blies in die Kehle ihrer Freundin.

Dann kletterte sie auf Pennys Taille, legte eine Hand mit den Handflächen nach unten auf die andere und drückte ihren Handrücken nach unten auf Pennys Brustbein. Sie tat es ein zweites und dann ein drittes Mal und versuchte, in einen Rhythmus zu kommen.

„Oh Gott“, hörte sie Beth murmeln und sah auf, um zu sehen, was los war.

„Was ist los?“, fragte sie verzweifelt.

„Wenn du auf sie drückst, sickert Blut aus ihrer Brust.“

Eliza sah nach unten. Es war wahr. Jede Kompression verursachte ein langsames Auslaufen von Blut aus scheinbar breiten Wunden in ihrer Brust. Sie sah wieder auf.

„Ruf den Notruf!“ schrie sie, obwohl sie wusste, dass es keinen Sinn machte.


* * *

Jessie, die sich unerwartet nervös fühlte, ging früh zur Arbeit.

Mit all den zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen, die sie getroffen hatte, hatte sie beschlossen, an ihrem ersten Arbeitstag in drei Monaten zwanzig Minuten früher loszufahren, um sicherzustellen, dass sie um 9 Uhr ankam – die Zeit, zu der sie laut Polizeipräsident Decker da sein sollte. Aber sie musste besser darin geworden sein, all die versteckten Kurven und Treppenhäuser zu bewältigen, weil es nicht annähernd so lange dauerte, zum Revier zu gelangen, wie sie erwartet hatte.

Als sie vom Parkhaus zum Haupteingang des Reviers ging, huschten ihre Augen hin und her und suchten nach Ungewöhnlichem. Aber dann erinnerte sie sich an das Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte, kurz bevor sie am Abend zuvor eingeschlafen war. Sie würde nicht zulassen, dass die Drohung ihres Vaters sie beeinflusste.

Sie hatte keine Ahnung, wie vage oder spezifisch die Informationen, die Bolton Crutchfield ihrem Vater gegeben hatte, waren. Sie wusste nicht einmal, ob Crutchfield ihr die Wahrheit sagte. Trotzdem gab es nicht viel mehr, was sie dagegen tun konnte, als sie es bereits tat. Kat Gentry überprüfte die Bänder von Crutchfields Besuchen. Sie lebte im Grunde genommen in einem Bunker. Sie würde heute ihre offizielle Waffe bekommen. Darüber hinaus musste sie ihr Leben leben. Sonst würde sie verrückt werden.

Sie machte sich auf den Weg zum HauptbГјro des Reviers und verspГјrte ein wenig Angst vor dem Empfang, den sie nach so langer Zeit erhalten wГјrde. Hinzu kam, dass sie, als sie zuletzt hier war, nur Junior Profilerin auf Probezeit war.

Nun war die Probezeit vorbei und, obwohl sie technisch gesehen noch Profilerin war, wurde sie vom LAPD bezahlt und erhielt alle damit verbundenen Leistungen. Das schloss die Krankenversicherung ein, die sie, wenn man ihre jГјngsten Erfahrungen betrachtete, definitiv brauchte.

Als sie in den groГџen zentralen Arbeitsbereich trat, der aus Dutzenden von Schreibtischen bestand, die durch nichts anderes als Korkplatten getrennt waren, atmete sie ein und wartete. Aber es kam nichts. Niemand sagte etwas.

Tatsächlich schien niemand ihre Ankunft zu bemerken. Einige Köpfe waren nach unten geneigt, studierten Fallakten. Andere waren auf die Menschen jenseits der Tische von ihnen fixiert, in den meisten Fällen Zeugen oder Verdächtige in Handschellen.

Sie fГјhlte sich irgendwie ernГјchtert. Aber noch mehr als das, sie fГјhlte sich albern.

Was habe ich erwartet – ein Empfangskomitee?

Es ist ja nicht so, als hätte sie den mythischen Nobelpreis für Verbrechensaufklärung gewonnen. Sie war zweieinhalb Monate lang auf einer FBI-Ausbildungsakademie gewesen. Es war ziemlich cool. Aber niemand würde in Beifall für sie ausbrechen.

Sie ging leise durch das Labyrinth der Schreibtische und passierte Detektive, mit denen sie bereits zusammengearbeitet hatte. Callum Reid, Mitte vierzig, blickte von der Akte auf, die er las. Als er ihr zunickte, fiel ihm seine Brille fast von der Stirn.

Alan Trembley, um die zwanzig, mit seinen blonden Locken, die wie Гјblich durcheinander waren, trug auch eine Brille, aber sie befand sich auf seinem NasenrГјcken. Er befragte aufmerksam einen Г¤lteren Mann, der betrunken zu sein schien. Er bemerkte Jessie nicht einmal, als sie an ihm vorbeiging.

Sie erreichte ihren Schreibtisch, der peinlich aufgeräumt war, warf ihre Jacke und Rucksacktasche auf den Boden und nahm Platz. Als sie sich setzte, sah sie Garland Moses langsam mit einem Kaffee in der Hand aus dem Pausenraum schlendern. Er war auf dem Weg die Treppe hinauf in sein Büro im zweiten Stock, das ursprünglich eine Besenkammer gewesen war.

Es schien ein eher unscheinbarer Arbeitsplatz für den berühmtesten Kriminalprofiler, den das LAPD hatte, aber Moses schien das egal zu sein. Tatsächlich war ihm einiges egal. Über siebzig Jahre alt und als Berater für die Abteilung tätig, um Langeweile zu vermeiden, konnte der legendäre Profiler so ziemlich alles tun, was er wollte. Als ehemaliger FBI-Agent war er an die Westküste gezogen, um seinen Ruhestand zu genießen, war aber überzeugt worden, für die Abteilung zu arbeiten. Er stimmte zu, solange er seine Fälle selbst auswählen und sich seine Stunden frei einteilen konnte. In Anbetracht seiner Erfolgsgeschichte hatte damals niemand etwas dagegen einzuwenden, und das hatten sie auch heute noch nicht.

Er hatte weißes, ungepflegtes Haar, ledrige Haut und kleidete sich wie im Jahre 1981. Außerdem hatte er den Ruf, bestenfalls barsch und im schlechtesten Fall sehr mürrisch zu sein. Aber in Jessies einer signifikanten Interaktion mit ihm hatte sie ihn, wenn nicht sogar als freundlich, so doch zumindest als gesprächig empfunden. Sie wollte wissen, wie sein Kopf funktionierte, hatte aber immer noch etwas Angst, ihn direkt anzusprechen.

Als er die Treppe hinaufging und außer Sichtweite war, blickte sie sich um und suchte nach Ryan Hernandez, dem Detektiv, mit dem sie am häufigsten zusammengearbeitet hatte und von dem sie sogar sagen konnte, dass er ein Freund war. Sie hatten sogar vor kurzem angefangen, sich beim Vornamen zu nennen, was unter Polizisten eine große Sache war.

Sie hatten sich tatsächlich außerhalb der Arbeit kennengelernt, als ihr Professor ihn einlud, in ihrem letzten Semester an der UC–Irvine im vergangenen Herbst mit ihrer Absolventenklasse für Kriminalpsychologie zu sprechen. Er hatte eine Fallstudie vorgestellt, die Jessie als einzige in der Klasse lösen konnte. Später erfuhr sie, dass sie erst die zweite Person war, die es je herausgefunden hatte.

Danach hielten sie Kontakt. Sie hatte ihn um Hilfe gebeten, nachdem sie anfing, die Motive ihres Mannes zu erkennen, aber noch bevor er versuchte, sie zu töten. Und als sie wieder nach DTLA zurückgekehrt war, wurde sie auf das Revier versetzt, wo er arbeitete.

Sie lösten mehrere Fälle zusammen, darunter die Ermordung der High-Society-Stiftungsvorsitzenden Victoria Missinger. Es war zu einem großen Teil Jessie's Entdeckung verschuldet, dass sie schließlich den Mörder fassen konnten. Auf diese Weise erlangte sie den Respekt, der ihr den FBI-Platz sicherte. Aber ohne die Erfahrung und den Instinkt von Ryan Hernandez wäre es nicht möglich gewesen.

Tatsächlich war er so gut angesehen, dass er einer Spezialeinheit im Raub-Mord zugeordnet wurde, die als Homicide Special Section, kurz HSS, bezeichnet wird. Sie sind auf hochkarätige Fälle spezialisiert, die viel Medieninteresse oder öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Das bedeutete in der Regel Brandstiftungen, Morde mit mehreren Opfern, Morde an berühmten Personen und natürlich Serienmörder.

Neben seinem Können als Ermittler musste Jessie anerkennen, dass es nicht unangenehm war, Zeit mit ihm zu verbringen. Die beiden hatten ein gutes Verhältnis, als ob sie sich schon viel länger als sechs Monate kennen würden. In einigen Situationen in Quantico, wenn sie gerade nicht zu sehr beschäftigt war, fragte sich Jessie, ob die Dinge vielleicht anders gelaufen wären, wenn sie sich unter anderen Umständen kennengelernt hätten. Aber zu diesem Zeitpunkt war Jessie noch verheiratet und Hernandez und seine Frau waren seit über sechs Jahren zusammen.

Gerade in dem Moment öffnete Polizeipräsident Roy Decker seine Bürotür und trat heraus. Groß, schlank und fast völlig kahl, bis auf ein paar verirrte Haare, war Decker noch keine sechzig. Aber er sah viel älter aus, mit seinem fahlen, runzeligen Gesicht, das auf ständigen Stress hinwies. Seine Nase war spitz und seine kleinen Augen waren wachsam, als ob er immer auf der Jagd wäre, wovon Jessie ausging.

Als er ins Großraumbüro trat, folgte ihm jemand nach draußen. Es war Ryan. Er war genau so, wie sie sich an ihn erinnert hatte. Etwa 1,80 groß und 100 Kilo mit kurzen schwarzen Haaren und braunen Augen, trug er einen Mantel und eine Krawatte, die das verbargen, was sie als einen gut gebauten Körper bezeichnete.

Er war dreißig Jahre alt und noch ziemlich jung für seine Position als Detektiv. Aber er war schnell aufgestiegen, besonders nachdem er als Straßenpolizist dazu beigetragen hatte, einen berüchtigten Serienmörder namens Bolton Crutchfield zu fassen.

Als er und Offizier Decker herauskamen, ließ ihn etwas, das sein Chef gesagt hatte, in dieses warme, leichte Grinsen ausbrechen, das so sympathisch war. Dieses Lächeln war sogar in Befragungen von Verdächtigen zu sehen. Zu ihrer Überraschung löste der Anblick von ihm eine unerwartete Reaktion in ihr aus. Irgendwo in ihrem Bauch entstand ein seltsames Gefühl, das sie seit Jahren nicht mehr gespürt hatte: Schmetterlinge.

Hernandez erblickte sie und winkte, als die beiden Männer sich auf den Weg zu ihr machten. Sie stand auf, ärgerte sich über das unerwartete Gefühl und hoffte, dass Bewegung es ersticken würde. Sie zwang ihre Gedanken in den professionellen Modus und versuchte basierend auf ihrem Gesichtsausdruck herauszufinden, worüber sie privat gesprochen haben könnten. Aber beide Männer trugen Masken, die darauf hindeuteten, dass sie versuchten, den Inhalt ihrer Diskussion geheim zu halten. Jessie bemerkte jedoch eine Sache: Ryan sah müde aus.

„Willkommen zurück, Hunt“, sagte Decker oberflächlich. „Ich hoffe, Ihre Zeit in Virginia war aufschlussreich?“

„Sehr wohl“, antwortete sie.

„Ausgezeichnet. Während ich gerne die Einzelheiten hören würde, müssen wir das vorerst noch verschieben, stattdessen werden Sie Ihre neuen Fähigkeiten sofort auf die Probe stellen. Sie haben einen Fall.“

„Bitte?“, fragte sie etwas überrascht. Sie nahm an, dass er mit ihr über ihre neuen Aufgaben sprechen wollte, die sie als nun fest angestellter Profiler übernehmen sollte.

„Hernandez wird Ihnen unterwegs die Details erklären“, sagte Decker. „Der Fall ist etwas heikel und Ihre Dienste wurden ausdrücklich angefordert.“

„Wirklich?“ fragte Jessie und bedauerte ihre Begeisterung sofort.

„Wirklich, Hunt“, antwortete Decker und blickte finster drein. „Anscheinend haben Sie sich einen gewissen Ruf aufgebaut. Ich kann jetzt nicht näher darauf eingehen. Es genügt zu sagen, dass die Leute da oben diesen Fall mit Bedacht behandeln wollen. Ich erwarte, dass Sie das während den Ermittlungen im Hinterkopf behalten.“

„Selbstverständlich.“

„In Ordnung. Wir sehen uns später“, sagte er. Dann drehte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort davon.

Ryan, der bis dahin nicht gesprochen hatte, tat es schlieГџlich jetzt.

„Willkommen zu Hause“, sagte er. „Wie geht es dir?“

„Nicht schlecht“, sagte sie und ignorierte das flatternde Gefühl, das plötzlich zurückgekehrt war. „Ich lebe mich gerade erst wieder ein.“

„Nun, gleich wieder voll einzusteigen sollte dir dabei helfen“, sagte er. „Wir müssen sofort los.“

„Habe ich noch Zeit, die Waffe abzuholen, die ich angefordert habe, bevor ich nach Quantico gegangen bin?“

„Ich habe das heute Morgen für dich überprüft“, sagte er, als sie begannen, durch das Büro zu laufen. „Leider ist da bürokratisch etwas schief gelaufen und dein Antrag wurde noch nicht bearbeitet. Ich habe das Problem mit dem Papierkram gelöst, aber du wirst deine Waffe wahrscheinlich erst nächste Woche bekommen. Denkst du, du kannst erstmal noch deinen Kopf als Waffe benutzen in den nächsten Tagen?“

Er lächelte sie an, aber sie bemerkte etwas, das sie vorher nicht bemerkt hatte. Er hatte Augenringe unter seinen Augen, die ein wenig rot waren.

„Klar“, sagte sie nickend und versuchte, mit seinem zügigen Tempo Schritt zu halten. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja. Warum?“ fragte er und blickte zu ihr hinüber.

„Du siehst nur ein wenig… müde aus.“

„Ja“, sagte er und schaute wieder geradeaus, während er sprach. „Ich habe in letzter Zeit Schlafprobleme. Shelly und ich werden uns trennen.“




Kapitel neun


Sie waren bereits einige Minuten im Auto gewesen, bevor sich wieder alles normal anfГјhlte.

Jessie hatte ihm auf dem Revier ihr Mitgefühl ausgesprochen und Ryan hatte ihr gedankt. Aber er erzählte nicht wirklich etwas darüber und sie hielt es nicht für angebracht, Fragen zu stellen. Und da der Fall, den sie behandelten, zu heikel war, um im Revier darüber zu sprechen, sprachen sie über ihren Rückflug und Supermarkt-Sushi. Sie waren aus der Übung.

Als sie sich auf den Weg machten war zu Beginn weiterhin eine komische Stimmung zwischen den beiden. Als sie aus der Garage auf die StraГџe fuhren, klopfte ein Obdachloser an ihr Fenster und bat um Kleingeld. Sie sprang in ihrem Sitz auf und schlug sich mit dem Kopf an der Decke.

„Alles in Ordnung?“ fragte Ryan und schaute sie kurz an.

„Ja, ich schätze, ich bin nur nicht mehr daran gewöhnt“, sagte sie, als sie die wunde Stelle rieb. „Es gibt nicht so viele Obdachlose in den Straßen von Virginia.“

Ryan sah aus, als wolle er antworten, Гјberlegte es sich dann aber anders. Als sie durch die Stadt fuhren, entspannte sich die Situation zwischen ihnen langsam.

„Also, was ist so heikel an diesem Fall, dass wir ihn nicht auf dem Revier besprechen konnten?“, fragte sie.

„Das hätten wir wahrscheinlich gekonnt“, gab Ryan zu, als er auf die Autobahn Richtung Westen fuhr. “Aber Decker kann ein wenig paranoid sein und ich finde es einfacher, das zu tun, was er möchte. Wir sind auf dem Weg nach Pacific Palisades.“

„Das ist ein bisschen außerhalb unseres Bereichs, oder?“

Ja, etwa 30 Kilometer. Aber obwohl es fast in Malibu ist, ist es technisch gesehen Teil der Stadt Los Angeles, also liegt es in der Zuständigkeit des LAPD. Die Leute vom Revier West-LA haben einen Fall bekommen, von dem sie dachten, wir könnten helfen. Eigentlich dachten sie, du könntest helfen. Ich bin nur für die Fahrt da.“

„Wie jetzt?“ fragte Jessie völlig verwirrt.

„Lass mich von vorne beginnen“, sagte Ryan. „Irgendwann in den letzten zwölf Stunden wurde eine Frau namens Penelope Wooten ermordet. Sie wurde mindestens achtmal in die Brust und den Bauch gestochen. Mein alter Partner, Brady Bowen, hat den Fall übernommen. Es stellte sich heraus, dass Penelope mit Colton Wooten verheiratet ist. Klingelt bei diesem Namen etwas?“




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